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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer
Autoren: Dina Nayeri
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erzählten einander Geschichten und hielten sich an den Händen. Sie redeten flüsternd darüber, wie viel Ärger sie nach ihrer Rettung wohl bekommen würden. So hat Saba es mir beschrieben. Wenn ich mir jene Nacht vorstelle, dann ist sie längst nicht so friedlich. Ich stelle mir vor, dass sie nach Luft schnappten, mit ihren kleinen Füßen das trübe Wasser aufwühlten, zu atmen versuchten, während die Seeschwalben über ihnen kreisten. Das ist die Szene, die mir in den Sinn kommt, wenn ich Saba jetzt allein sehe, wie sie genau studiert, was sie alles über Mahtab geschrieben hat, sich an den Hals fasst, als würde sie nach Luft ringen. Sie denkt, ich sehe das nicht, aber es ist offensichtlich, dass sie wieder im Meer ist. Der Körper erinnert sich an vieles, was der Verstand vergisst.
    Agha und Khanom Hafezi hatten schon eine Weile nach ihnen gesucht. Sie hatten den ganzen Ort durchkämmt und waren dann erst auf den Gedanken gekommen, dass ihre Töchter vielleicht schwimmen gegangen waren. Eine Fügung von Zeit und Schicksal und das Band zwischen Müttern und Töchtern führten dazu, dass Bahareh genau in dem entscheidenden letzten Moment, als die Mädchen kurz davor waren, die Hoffnung aufzugeben und sich von den Dschinn davontragen zu lassen, verlangte, dass auf dem Meer nach ihnen gesucht wurde.
    Die örtliche Polizei weigerte sich zunächst. Sie wollten nicht auf Bahareh hören, diese hysterische Frau, die ihr Kopftuch unzüchtig herunterrutschen ließ, fluchte und sie beschimpfte. Dann, als sie endlich Agha Hafezis Bitten – oder wohl eher seinem Portemonnaie – Gehör schenkten, sagten sie, sie hätten kein Boot und müssten einen Fischer aufwecken, um seines nehmen zu können. Der alte Bootsführer erklärte sich gleich bereit, doch als sie endlich ablegen wollten, weigerten sich die Polizisten, Bahareh auf ein Boot mit Männern zu lassen. Bahareh, die mittlerweile vollends dem Wahnsinn verfallen war, warf ihren Hidschab ab und rannte ins Meer. Sie schwamm voll angekleidet los, und die Männer schrien etwas von Sünde und Schamlosigkeit hinter ihr her. Sie zogen sie aus dem Wasser und beschimpften sie, ehe sie dem alten Fischer erlaubten, allein mit Agha Hafezi loszufahren, um die Mädchen zu suchen.
    Die Mädchen können höchstens ein oder zwei Minuten eingeschlafen gewesen sein, als die Männer im Boot sie entdeckten. Saba trieb noch auf dem Rücken, als die schwieligen, salzigen Hände des dör f lichen Fischhändlers sie aus dem Wasser hoben. Ihr Vater tauchte eine Stunde lang immer wieder nach seiner anderen Tochter. Irgendwann kam die Küstenwache dazu und suchte mit. Ich weiß nicht, ob Saba wach war, ob sie mit angesehen hat, wie ihr Vater sechzig panische Minuten lang verzweifelt versuchte, Mahtab im Bauch des Kaspischen Meeres zu finden. Wahrscheinlich nicht, weil sie uns oft erzählt hat, dass Mahtab mit ihr im Boot war und Lieder gesungen hat, oder irgendetwas anderes Verrücktes und Unmögliches.
    Als die Suche nach Mahtab eingestellt wurde und das Boot zurück ans Ufer fuhr, hörte Agha Hafezi nicht auf, sich selbst Vorwürfe zu machen.
Ich wünschte, ich hätte anders gehandelt
, sagte er und meinte damit, dass er die Mädchen eher hätte finden oder verhindern sollen, dass sie sich überhaupt aus dem Haus schleichen konnten. Aber er hatte nicht viel Zeit für Selbstmitleid – denn in dem Moment wurde seine Frau schon von der Polizei verhört, und dort war man sich bereits darüber im Klaren, dass man eine Entschuldigung brauchen würde. Bald würden die Leute anfangen, Fragen zu stellen. Warum hatte die Suche nach den Mädchen nicht früher begonnen? Warum die Verzögerung? Man warf Bahareh Unzüchtigkeit vor. Und später, dass sie die Arbeit der Polizei behindert und damit ihren eigenen Töchtern geschadet hatte.
    * * *
    Sie kennen doch das Sprichwort: »Der Esel ist über die Brücke gegangen.« Es bedeutet: Wenn ein Mensch Schwierigkeiten hat – wenn der Esel, auf dem er reitet, gerade über eine wackelige Brücke schwankt –, verhält er sich auf eine bestimmte Art. Aber wenn seine Schwierigkeiten überwunden sind – wenn der Esel also sicher auf der anderen Seite angekommen ist –, dann verhält er sich wieder hochnäsig, als würde er nichts und niemanden brauchen. Nicht so Agha Hafezi. Nach dem Kaspischen Tag, als ganz Cheshmeh mithalf, seine Tochter wieder gesund zu pflegen, öffnete er uns allen seine Türen, und er schloss sie nie wieder. Manche Leute denken, das hat er
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