Ein Teelöffel Land und Meer
neue Geschichte der Welt oder einer Stadt oder einer Familie entwerfen würden. Sie hat noch nichts dergleichen getan.
Ihr Vater spricht weiter, hält die ganze Zeit ihre Hand fest, als dächte er, sie würde weglaufen oder das, was er sagen will, würde durch seine verschwitzten Handteller in ihre Adern dringen. »Saba-dschan, die Wahrheit zu akzeptieren heißt nicht, deine Maman und Mahtab zu entehren. Aber es hält dich davon ab, diese starke Frau zu werden. Du klammerst dich so fest an deine Hoffnung, verwendest all deine Kraft darauf, dass sie zu einem dicken Stein geworden ist, der auf dir lastet. Verstehst du? Jetzt hast du keine Kraft mehr übrig. Und selbst wenn du es versuchst, du kannst nicht davonfliegen und all die Dinge tun, die dir bestimmt waren.« Als sie nicht antwortet, sagt ihr Vater: »Es tut mir leid, wenn ich nicht die richtigen Worte finde. Ich bin nicht dein Zwilling. Diesen Teil kann ich wahrscheinlich nicht verstehen.«
Sie setzt sich neben ihn, schiebt auch die andere Hand in die Muschelschale der schweren väterlichen Handflächen und sagt: »Ich denke, du verstehst es.« Sie legt den Kopf an seine Schulter. Es ist lange her, dass sie die Rundungen und Knubbel einer väterlichen Schulter an ihrer Wange fühlte. »Was Amerika betrifft, lass mir Zeit. Ich finde eine Lösung.«
»Falls du gehst«, sagt er ein wenig traurig, »wirst du mir fehlen.«
»Nur die erste Zeit.« Sie lächelt, und als ihr Vater widersprechen will, fügt sie hinzu: »Weil ich nicht Mahtab bin und es nicht für immer sein wird.«
* * *
Es dauert Monate, bis das Visum genehmigt wird. Es folgen Befragungen und Fahrten nach Rasht, ungelegene Anrufe bei ihr zu Hause, Dutzende von erfundenen Geschichten über Arztbesuche und angebliche weitere Untersuchungen und Einkaufstrips mit Ponneh, die immer sofort bereit ist, ihre Geschichten zu bestätigen, ehe sie eilig au f legt und die Sache wahrscheinlich sofort wieder vergisst. Ponneh fragt nie, was Saba vorhat, und Saba vermutet, dass ihr Umgang mit Dr. Zohreh nicht nur intensiver, sondern auch viel gefährlicher geworden ist. Aber Saba ist viel zu beschäftigt, um der Sache nachzugehen.
Der Termin für ihr Treffen mit Abbas’ Bruder kommt, und sie ruft an und sagt, sie sei wegen Krankheit verhindert. Der Anwalt wird wütend und droht, die Gerichte einzuschalten. Aber ihr Vater ist selbst mit hoch geachteten Mullahs befreundet, und obwohl sie Mullah Ali nie ausstehen konnte, zögert der das Verfahren hinaus, indem er den Sachverhalt verkompliziert, dafür sorgt, dass seine Kollegen in Rasht zu beschäftigt sind, um zu reagieren, und ihre Teller mit Kostbarkeiten aus Agha Hafezis Vorratskammer garniert. Er malt ein engelgleiches Bild von Saba, der Witwe, die das Geld stets nur dazu verwendet hat, die Sache des Islam zu fördern.
Die Gerichte lassen sich immer wieder wochenlang beschwichtigen, und das Verfahren verzögert sich weiter.
Bald beginnt Saba, sich unmögliche Dinge zu wünschen. Kann sie Reza mitnehmen? Können sie gemeinsam in Amerika ein neues Leben beginnen? Kann sie ihn überreden mitzukommen? Andererseits, Reza wäre nicht glücklich in Amerika. Er würde seine Familie und ihr konservatives Leben vermissen. Er würde ein ankerloses Wesen sein, ein Einwanderer, immer auf der Suche nach jemandem mit einem vertrauten Duft. Sie denkt an die vielen gut ausgebildeten iranischen Männer, die als Taxifahrer in New York oder Kalifornien enden. Was würde aus jemandem wie Reza werden? In Cheshmeh könnte er eigenen Grundbesitz haben. Er könnte wie ihr Vater sein.
Während sie darauf wartet, dass ihr Visumantrag bearbeitet wird, verfallen zwei ihrer Flugtickets.
Als sie alle Papiere zusammenhat, kommt der schwierigste Teil ihres Vorhabens, nämlich der Weg in eine amerikanische Botschaft. Im Iran gibt es keine, und sie muss eine Möglichkeit finden, unbemerkt nach Dubai zu reisen. Ein Freund ihres Vaters besitzt dort eine Fabrik und konnte ihr helfen, ein Visum zu bekommen, das es ihr erlaubt, aus dem Iran aus- und nach Dubai einzureisen, und die erforderliche Reiseerlaubnis von Reza hat sie gefälscht, mit dem Gedanken, dass sie ihn ja bald einweihen wird. Sie plant, mit dem Auto von Cheshmeh nach Teheran zu fahren und von dort nach Dubai zu fliegen, wo sie einen Wagen mit Fahrer nehmen und sich zur Botschaft bringen lassen wird. Die ganze Reise einschließlich ihres Termins in der Botschaft wird zwei Tage in Anspruch nehmen. Dafür erbittet sie die Hilfe
Weitere Kostenlose Bücher