Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
Vom Netzwerk:
erzählte, wie sie ihn gesehen hatte, in seinem gelben Hemd und der gelben Hose und mit dem gelben Korb, in dem er Sonne und Mond aufbewahrte. Sie leckte nur weiter Honig von ihrem Teelöffel, und Mahtab sprach über die Werkstatt des Sonne-Mond-Mannes, in der es Seile und Knöpfe und Hebel gab, einen großen Teekessel und überall Papiere. Dann brachte Mahtab Saba das Lied bei, das man singen muss, damit er schneller arbeitet.
»Hey, Mr Sonne-Mond-Mann, häng die Sonne für mich auf.«
Sie sang es zu der Melodie von einem ihrer ausländischen Lieblingslieder, das »Mr Tambourine Man« hieß, wie ihre Mutter sagte.
    Dieser kleine Teufel. So viel Spinnerei, nur um ihre Schwester neidisch zu machen.
    So wird man wohl, wenn man das Glück hat, Englisch zu lernen und englische Lieder zu hören und ausländische Sachen zu lesen. Teufelei, die sich als Schlauheit tarnt. Mahtab trieb gern solche Spielchen mit ihrer Schwester. Es gefiel ihr, die Kluge zu sein, und sie hatte eine wilde Fantasie und ein boshaftes kleines Herz. Manchmal mache auch ich Mahtab innerlich Vorwürfe, weil sie Saba verlassen hat, die doch viel abhängiger von ihr war als umgekehrt. Ich kann nichts dagegen tun – Gott möge mir verzeihen –, aber ohne ihre Schwester hat Saba ihren Zauber verloren. An all das erinnere ich mich jetzt, wo die Entfernung zwischen ihnen nicht mehr von kleinen Fingern gemessen wird oder von schwatzhaften Mündern an lauschenden Ohren, sondern von unendlich viel Land und Meer. Nach dem großen Verlust ihrer halben Familie hat Saba mich mal gefragt:
Wie oft müsste ich mit dem Teelöffel schaufeln, um den ganzen Weg von hier nach dort zu kommen?
Sie hielt den Löffel so zur Erde gerichtet, als wollte sie gleich damit anfangen, sich zu ihrer Schwester durchzugraben. Sie wusste, wie sie mir das Herz brechen kann.
    »Er bekommt nicht genug Lohn«, sagte Mahtab damals über den Sonne-Mond-Mann. »Die Sonne ist heiß, besonders, wenn man sie in der Hand trägt.« Und Saba wusste, dass das die Wahrheit war, weil der Erzähler jede Geschichte mit dem Gedicht über Wahrheit und Lüge abschließen muss, bei dem sich Joghurt und Joghurt-Soda (
maast
und
dugh
) auf Wahrheit und Lüge (
raast
und
dorugh
) reimen.
    Nach oben ging’s, und da war
maast
,
    Runter ging’s, und da war
dugh
.
    Und die Geschichte war
dorugh
(Lüge!).
    Oder:
    Nach oben ging’s, und da war
dugh
,
    Runter ging’s, und da war
maast
,
    Und die Geschichte war
raast
(Wahrheit!).
    Wir Mütter nehmen dieses Gedicht ernst, und wenn wir erfundene Geschichten erzählen wie die von Leila und Madschnun oder der Stadtmaus und der Feldmaus, schließen wir mit der ersten Version, und wenn wir die Geschichte des Propheten Muhammad oder die von König Xerxes erzählen, schließen wir mit der zweiten. Nachdem Mahtab von dem Wanderausflug und dem Sonne-Mond-Mann erzählt hatte, sagte sie die zweite Version auf, behauptete also, dass ihre Geschichte wahr war. Deshalb war Mahtab keine echte Geschichtenerzählerin, bloß eine Göre, die alle Regeln missachtete. Und nun hat Saba gelernt, wie ihre Schwester zu lügen, denn ich habe von Reza erfahren, dass auch sie nach ihrer Mahtab-Geschichte in der Gasse in Rasht die zweite Version aufsagte.

Kapitel Zwei
    Herbst 1984
    W ährend der Pubertät führt Saba jeden Herbst einen Kampf mit dem Himmel über Gilan. Stets misstraut sie den nassen, unersättlichen Monaten, wenn die üppigen Reisfelder des Iran größtenteils abgeerntet worden sind. So ein taufrischer
shalizar
-Morgen kann einen leicht von der Wahrheit ablenken: Alles erscheint plötzlich fremd und anders und zwingt die Menschen, sich nach Neuem zu sehnen, so zu tun, als hätten sie seit der letzten Ernte nichts verloren. Herbstliche Blätter in zahllosen Gelb- und Rottönen zerfallen in kleine Stücke und haften sich an die Tröpfchen des Kaspischen Meeres, die in der Luft schweben. Das ergibt einen Dunst, der in Nasen schlüpft und in Körper dringt, sodass die Menschen nur noch an das Meer und seine Früchte denken können. Er weckt in ihnen Heißhunger auf Fisch und Reis. Er löscht die Erinnerung an die Kümmernisse des vergangenen Jahres und an ferne Verwandte. Aber nicht für Saba, die in der Tiefe des Wassers war. Der unaufhörliche Regen macht ihr Angst. Die weiße Nebelwolke, die knapp unter den Gipfeln der Alborz-Berge und über dem Meer hängt (an der Stelle, wo es aussieht, als würden Berge und Meer zusammenstoßen), verunsichert sie ebenso wie die

Weitere Kostenlose Bücher