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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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entscheiden?« Saba legt einen Finger zwischen die Seiten und schlägt die Zeitschrift zu. Auch sie will das wissen, aber sie hätte die Frage niemals gestellt.
    Khanom Mansuri nickt mit ihrem kleinen, rundlichen Kopf und sagt: »Ist doch nicht wichtig, was ich glaube.« Sie presst die Lippen zusammen, und ihre Augen beginnen, sich zu schließen.
    »Ich finde es aber wichtig«, sagt Saba. »Komm schon, such eine aus!«
    »Tja«, wirft Ponneh ein. »Ich finde, er sollte sich gar nicht entscheiden. Ich finde, die Mädchen sollten für ihn entscheiden. Er sollte entweder beide oder keine heiraten. Dann können sie Freunde bleiben.«
    Saba denkt kurz darüber nach. Sie beschließt, Ponneh nicht weiterreden zu lassen, und schlägt den Artikel wieder auf. Diese Geschichten enden immer mit einem ungelösten Dilemma.
Was würden Sie tun?
, fragt der Autor provozierend. Als sie zu Ende gelesen haben, erzählt die alte Khanom Mansuri den Mädchen ihre eigene Liebesgeschichte von einem Ehemann, der seit über siebzig Jahren in sie vernarrt ist. Im Gegenzug erzählen die beiden Khanom Mansuri, wie unfair es ist, vierzehn zu sein und ohne Liebe.
    Die schöne Ponneh mit den Mandelaugen beschwert sich darüber, dass sie gezwungen ist, ihre allmählich zusammenwachsenden Augenbrauen zu ertragen, bis sie heiratet oder durch irgendein Wunder schon früher anfangen darf, sie sich zu zupfen. Saba beklagt stumm, niemals laut, dass ihre persische Nase zu groß geworden ist und ihr Körper anfängt, kurvig zu werden. Sie hat Fettpolster, wie hässlich, und sie schießt in die Höhe – wird richtig groß –, während Ponneh zierlich ist. Auch sie wünscht sich, sie dürfte sich die Härchen um Augen und Lippen zupfen und dass sie nicht so dunkel wäre mit ihren schwarzen Augen, dem schwarzen Haar und ihrer olivfarbenen Haut. Ponnehs Haut ist hell wie Porzellan, und ihre Augen haben einen unwahrscheinlichen Haselnusston.
    Und dann sagt die alte Dame etwas, obwohl sie halb schläft, das sie beide aufmerken lässt. Wie ein Prophet öffnet sie den Mund und löst ehrfürchtiges Schweigen im Raum aus: »Ich wüsste gern, ob Mahtab auch so einen großen Hintern kriegt wie du.«
    Ponneh wirft Saba einen Blick zu und beginnt zu widersprechen. »Was soll denn das –«
    »Ach, schsch, schsch, Ponneh-dschan«, sagt Khanom Mansuri und winkt mit einer Hand in Ponnehs Richtung. »Saba weiß, was ich meine. Nicht wahr, Kind?«
    Saba leckt sich die trockenen Lippen und sieht Khanom Mansuri aus zusammengekniffenen Augen an, als wollte sie durch einen Riss in der Wand spähen. »Mahtab ist tot«, murmelt Saba, weil man ihr gesagt hat, dass das die Wahrheit ist. Ponneh strahlt vor Stolz und nickt, was Sabas schlechtes Gewissen erleichtert, weil sie irgendwie gelogen hat und weil sie heranwächst und sich allmählich der langsamen, freudlosen Logik der Erwachsenen unterwirft. Es laut auszusprechen, löst eine flattrige Panik in ihr aus, als würde sie nach einem frommen Leben laut eingestehen, dass es keinen Gott gibt. Eine Stimme flüstert:
Ich hab gesehen, wie sie in das Flugzeug gestiegen sind
.
    Aber Khanom Mansuri schüttelt den Kopf, sodass ihr Kopftuch verrutscht und hennafarbene Haarbüschel zum Vorschein kommen. »Hmmm … Man sagt, du wärst schlau, voll Bücherwissen und feinem Gespür. Und auf einmal glaubst du alles, was sie dir einreden wollen. Du weißt nicht, was wahr ist« – sie droht Saba mit dem Finger und starrt sie eindringlich an –, »was die
höchste
,
echte
Wahrheit ist, die die meisten Menschen nicht sehen. Du kannst nicht mal den Zauber brechen, ein Zwilling zu sein.«
    Saba liegen hundert Antworten auf der Zunge, die alle gleichzeitig in ihr hochsprudeln, aber ehe sie sich entscheiden kann, springt Ponneh auf. »Komm, Saba«, sagt sie. »Wir müssen was essen.«
    Saba rührt sich nicht. Sie starrt in den unscharfen Blick dieser winzigen Wahrsagerin aus einer alten Welt, die durch den Schleier ihrer trüben Linsen mehr von Saba gesehen hat als deren eigener Vater. »Mahtab ist tot«, wiederholt sie, und ihre Stimme versucht, einen Anflug von Hoffnung zu verbergen.
    Khanom Mansuri beugt sich vor. »Was ist mit dem Brief?«, flüstert sie.
    Saba starrt Ponneh aus weit aufgerissenen Augen an, ihre beste Freundin, die sowohl missbilligend als auch beschämt aussieht – denn wer sonst hätte der alten Mansuri von dem Brief erzählt haben können? Sie versucht, sich zu erinnern, ob sie Ponneh je gebeten hat, niemandem was davon zu

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