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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Pfahlhäuser, die aussehen, als würden sie an beiden Enden verschwinden, die Dächer und Pfähle verloren in Wasser und Nebel.
    Jedes Jahr wird die Vision von ihrer Mutter in der Flughafenlounge, mit Mahtab an der Hand, diffuser. Stand sie am Gate oder in der Warteschlange vor der Sicherheitskontrolle? Früher war Saba sicher, dass es am Gate war, doch jetzt weiß sie, dass es so nicht gewesen sein kann, weil Saba und ihr Vater nicht mehr durch die Kontrolle gegangen sind, nachdem sie losgerannt war, um Mahtab einzuholen. Und was trug ihre Mutter? Manteau? Kopftuch? Früher dachte sie, dass es das grüne Kopftuch war, das sie am liebsten trug, aber vor ein paar Monaten hat sie das verblassende Tuch hinten in einer Abstellkammer entdeckt. Dann, als sie schon drauf und dran war, die Vision in den Abgrund vergessener Tagträume und lückenhafter Erinnerungen zu entlassen, fiel ihr eine Kopie des Amerika-Visums ihrer Mutter in die Hände.
Ein Beweis
. Aber wofür? Saba beschwört oft das Bild vom Flughafen herauf, und die Gesichter werden nie undeutlich. Ihre Mutter und Schwester hasten zum Flugzeug und schweben davon in ein Vergessen, das mit Illustrierten und Rockmusik und Filmen von verliebten Männern und Frauen gefüllt wird.
    Mit ihren jetzt vierzehn Jahren sehen Ponneh und Saba in ihrer Freizeit gern bei der Arbeit auf den Reisfeldern zu oder schauen sich bei Saba zu Hause Videos an. Heute amüsieren sie sich in dem riesigen Hafezi-Haus oben auf dem Berg über Madonna und Metallica, Ausgaben von
Time
und
LIFE
,
Unsere kleine Farm
,
Herzbube mit zwei Damen
und die drei Khanom-Hexen. Die Mädchen durchleben vorsichtig eine Art Genesung, weil sie vor zwei Tagen ihren bislang größten Streit hatten.
    Angefangen hatte es damit, dass Saba mit Reza in der Vorratskammer ihres Elternhauses saß – ein Versteck, in dem sie sich sonst nur mit Ponneh traf – und die beiden sich auf ihrem Walkman eine Band mit dem seltsamen Namen The Police anhörten. Sie flüsterte ihm gerade den Text in das freie Ohr, als Ponneh auftauchte, offensichtlich überrascht und wütend. Nachdem sie höchstens fünf Minuten in der Vorratskammer halbherzig Interesse geheuchelt hatte, schnitt sie sich an dem scharfen Rand eines Tomatendosendeckels in die Hand.
    »Reza, hilf mir!«, schrie sie. Und das war die größte Ungerechtigkeit, denn wenn Ponneh eines nicht brauchte, dann war das Hilfe. Aber seit einiger Zeit holt sich Ponneh immer, wenn Reza in der Nähe ist – und vor allem, wenn er sich Sabas Musik anhört oder amerikanische Melodien summt oder fragt, was diese oder jene Zeile bedeutet –, irgendwie verstauchte Zehen oder blutige Finger oder Löcher in den Blusen. Und dann fasst sie jedes Pflaster, das Reza ihr holt, und jede Bleistiftmine, die er ihr aus dem Unterarm drückt, als Beweis für seine Zuneigung auf. Aber Saba weiß, dass nichts davon ein Zeichen von Liebe ist. Ihre Mutter hat gesagt, dass
echte
Liebe auf gemeinsamen Interessen basiert – wie zum Beispiel westlicher Musik.
    Aber nachdem Ponneh sich an jenem Tag in die Hand geschnitten hatte, setzte Reza sich neben sie und fing an, ihr ein französisches Lied vorzusummen, das Saba ihm erst ein paar Tage zuvor vorgespielt hatte. »Le Mendiant de l’Amour« war im Iran erfolgreich, weil es einen leicht nachzusingenden Refrain und eine fiebrige, persisch klingende Melodie hatte. »Weißt du«, sagte er zu Ponneh, »es geht um ein Mädchen namens Donneh, und das klingt doch fast wie Ponneh.« Er trommelte mit den Händen auf den Knien und versuchte mit seinem starken, ungebildeten Akzent, den Text zu singen:
Donneh Donneh, Do-donneh …
    »Das heißt was ganz anderes«, rief Saba, die sich durch Rezas himmelschreiende Fehlübersetzung, seinen fürchterlichen Akzent und seine schöne Stimme persönlich beleidigt fühlte. »
Donnez
heißt ›Gebt mir‹. Das ist Französisch. Hab ich dir doch gesagt.« Sie wollte ihren Standpunkt wiederholen, sich aber andererseits nicht wieder vorhalten lassen, sie wäre eine Angeberin. Reza antwortete nicht. Er musterte Sabas Gesicht. Dann summte er die Verse, deren Text er nicht kannte, und stupste mit dem Fuß Ponnehs Beine an, um sie aufzumuntern.
    Ehe er ging, flüsterte er Saba zu: »Vermisst du Mahtab?« Seit drei Jahren fragt Reza sie das schon – eine Stellvertreterfrage für all die Emotionen, die er sich nicht erklären kann. Ob Saba traurig ist oder zornig oder neidisch, er stellt ihr dieselbe Frage, schlägt einen besorgten Ton

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