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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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an. Saba lächelt dann immer vielsagend und nickt. Das ist ihr ganz persönliches Ritual.
    Später warf Ponneh Saba vor, sie habe sie wieder mal ausgeschlossen, habe Reza ihre geheime Vorratskammer gezeigt und mit ihrem Englisch angegeben. Saba warf Ponneh vor, sie habe sich absichtlich in die Hand geschnitten, sei gar nicht richtig an Musik interessiert und habe ihr Lied gestohlen. Aber in einer Welt ohne Mahtab hält Saba es nicht lange ohne beste Freundin aus. Schon kurze Zeit später lenkten andere Dinge sie ab. Ponneh fand heraus, dass sie mit der richtigen Buntkreide ganze Szenen auf die Innenseite eines alten weißen Tschadors malen konnte. Die nächsten beiden Tage verbrachten sie eingehüllt im Hidschab und schmückten die versteckten Teile des ausgefransten Tuchs mit Bildern aus Märchenbüchern und amerikanischen Illustrierten. Dann setzten sie sich im Schneidersitz hin, zogen den Stoff tief über die Augen und versuchten, die Zeichnungen von innen zu sehen. Als das nicht klappte – der Stoff wurde dadurch bloß kratziger –, stellten sie sich mit nackten Beinen über einen tragbaren Ventilator, den sie auf die Seite legten, damit der Tschador hochgeweht wurde, sie umflatterte wie Fledermausflügel und ihre inzwischen gerundeteren Beine freilegte, wie bei Marilyn Monroe.
    Heute laufen sie durch Sabas Haus und schmettern aus voller Kehle ein Lied aus
Sultan der Herzen
, einem iranischen Film der 1960er-Jahre.
»Ein Herz sagt mir, ich soll gehen, gehen. Ein anderes sagt mir, ich soll bleiben, bleiben.«
Saba hat die schönere Singstimme, also bringt sie der kichernden Ponneh mit kunstvollen, dramatischen Verbeugungen und galanten Gesten ein Ständchen.
    »Saba, hol mir meinen Beutel«, sagt Khanom Mansuri, die Uralte, die auf die Mädchen aufpassen soll, während die anderen Frauen Besorgungen für den Haushalt machen. Sabas Vater vertraut darauf, dass die alte Frau aus dem Dorf seiner Tochter anständiges, frauliches Verhalten beibringt. Aber selbst mit ihren fast neunzig Jahren hat sie kindlichen Spaß an Unfug. Saba glaubt, das liegt an der Kombination aus ihrem irreführend zierlichen Körper und dem ganzen Unsinn, den sie sich in den Stunden zusammenträumt, wenn sie so tut, als würde sie schlafen. Sie ist immer bereit für einen Spaß und hört nur noch schlecht, deshalb verzieht sie ihr eingefallenes, runzliges Gesicht zu einer verschwörerischen Miene und sagt in lautem Flüsterton zu einer gespannten Saba: »Ich hab ein neues Du-weißt-schon-was! Hol Ponneh und wimmel die
Erwachsenen
ab.«
    Diese Worte sind immer Musik in Sabas Ohren, denn sie verheißen einen Nachmittag mit der einzigen iranischen Zeitschrift, die sie gerne liest: die vorrevolutionären Ausgaben von
Zane Ruz
.
Die Frau von heute
. Obwohl sich die Illustrierte jetzt mit ernsten Themen wie zum Beispiel den Rechten der Frau befasst, ging es zu Zeiten des Schahs hauptsächlich um Mode, Frisuren und Klatsch. Immer enthielt sie eine spannende Geschichte namens »Scheideweg« über Dreiecksverhältnisse oder Noch-Ehemänner oder die mitternächtlichen Schandtaten lüsterner Stiefväter, die glaubten, dass Mädchen nicht reden, gefolgt von wohltuender Rache. Seiten mit pikanten Skandalen und verlockend verbotenen Beschreibungen.
    Uralt und gelangweilt, wie sie ist, mag Khanom Mansuri den billigen Kitzel von anzüglichen Geschichten, die sie mit ihren eigenen nachlassenden und ungeübten Augen nicht lesen kann. Wer könnte es ihr daher verübeln, dass sie zwei neugierige Vierzehnjährige zu ihren Mitwisserinnen macht, wenn sie allein auf sie aufpasst und ihr gleichfalls uralter Ehemann nicht in der Nähe ist, um sie zu unterhalten?
    An diesem Septembernachmittag, als Saba dagegen ankämpft, dass die herbstlichen kaspischen Nebel ihre Erinnerungen an Mahtab auslöschen, liest sie Ponneh und Khanom Mansuri eine Geschichte über einen jungen Mann mit zwei Geliebten vor. Die eine ist schön, die andere charmant. Eine ist still, die andere ausgelassen. Die eine weckt in ihm den Wunsch, auf Abenteuersuche in die Welt zu ziehen, die andere gibt ihm ein schwindelerregendes Gefühl von Liebe und Zufriedenheit. Saba ist von der Geschichte fasziniert, von dem seltsamen Gegensatz und der Rivalität. Welche wird er wählen? Sie blickt zu Ponneh hinüber, die sich auf den Rücken rollt und es sich vor einer Wand aus bunten Kissen bequem macht.
    »Khanom Mansuri«, überlegt Ponneh laut, »was glaubst du, für welche sollte der Junge sich

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