Ein toedlicher Verehrer
eine Mütze voll Schlaf genommen.
Heute war er in Jackett und Krawatte. Das Jackett erinnerte sie daran, dass sie fror. »Könnten Sie mir vielleicht einen Mantel aus dem Haus bringen lassen?«, fragte sie. »Welcher, ist mir egal.«
Er warf ihr einen raschen Blick zu, dem kein Detail entging. Vielleicht fiel ihm auf, dass sie zitterte. »Ich werde mich darum kümmern.«
»Danke.«
Die Familie hatte sich in Barbaras Suite versammelt. Randall und Emily waren mittlerweile eingetroffen, was Sarah kurzfristig Gewissensbisse bereitete. Eigentlich hätte sie die beiden empfangen und ihnen die Ankunft erleichtern sollen. Randall schüttelte ihre Hand, und die sonst so zurückhaltende Emily schloss sie in die Arme, worauf ihre Augen sofort wieder unter dem Druck der Tränen zu brennen begannen.
Barbara hatte als perfekte Gastgeberin ein Tablett mit Obst, Käse und süßem Gebäck in die Suite bringen lassen. Flaschen mit Wasser und eine Kanne mit frisch gebrühtem Kaffee standen ebenfalls bereit. Sarah fragte reihum, was alle trinken wollten, und schenkte dann schweigend ein. Ihre ohnehin erstaunliche Fähigkeit, im Gedächtnis zu behalten, wie jeder seinen Kaffee trank, war in der Butlerschule noch geschärft worden. Manche Butler konnten sich diese Kleinigkeiten für eine Gruppe von fünf oder sechs Gästen merken, andere mussten sich Notizen machen, in Sarahs Gehirn dagegen wurden aus einem unerfindlichen Grund solche Informationen anders abgespeichert. Wenn man sie um eine Beschreibung von Randall gebeten hätte, hätte sie beispielsweise geantwortet, er sei einsachtzig groß, habe graue Haare, haselnussbraune Augen und trinke seinen Kaffee mit Milch. Emily war einssiebzig, hatte dunkelrotes Haar, dessen Farbe alle vierzehn Tage von ihrem Friseur aufgefrischt wurde, braune Augen, zwei Stück Zucker, keine Milch.
Cahill, das wusste sie von den zahllosen Tassen Kaffee in der vergangenen Nacht, mochte ihn am liebsten schlicht: schwarz.
Als sie ihm seine Tasse Kaffee reichte, nickte er dankend und fragte dann: »Ist es Ihnen hier drin zu hell?«
Sie hatte ganz vergessen, dass sie immer noch die Sonnenbrille aufhatte. »Verzeihung«, murmelte sie und setzte sie ab. »Die habe ich ganz vergessen.« Ihre roten, verschwollenen Augen waren für alle im Raum deutlich zu sehen.
»Haben Sie schon was gegessen?« Barbara legte eine Hand auf ihre Schulter.
»Noch nicht.«
»Dann setzen Sie sich hin und essen Sie was. Wenn ich es kann, können Sie es auch.«
Auf Barbaras Drängen hin lud sie einige Obstschnitze und ein süßes Teilchen auf ihren Teller und sah sich dann nach einem freien Stuhl um. Barbara hatte zusätzliche Stühle hereinbringen lassen, damit jeder einen Platz fand; natürlich saßen die jeweiligen Familien beisammen, sodass nur der Stuhl neben Cahill frei geblieben war. Sie setzte sich, spießte unter Barbaras Adlerblick ein Stück Ananas auf ihre Gabel und steckte es in den Mund.
Sie musste sich zum Kauen zwingen, das Stückchen Ananas schien in ihrem Mund aufzugehen wie Hefeteig. Wäre sie allein gewesen, hätte sie es wieder ausgespuckt. Sie schloss kurz die Augen, weil ihre Kehle wie zugeschnürt war. Und kaute tapfer weiter.
»Schlucken«, befahl Cahill so leise, dass nur sie es hören konnte.
Sie gab sich redlich Mühe. Beim zweiten Versuch zwängte sich die Ananas tatsächlich durch ihren Schlund.
Weil es vernünftig war, etwas zu essen, ging sie diese Aufgabe mit der gleichen Entschlossenheit an wie alles andere. Während sie den Fragen der Verwandten und Cahills sachlich-neutralen Antworten lauschte, brach sie immer neue Bröckchen von ihrem süßen Teilchen ab und konzentrierte sich ganz aufs Kauen und Schlucken.
Irgendetwas an Cahills Nähe verlieh ihr neue Kraft. Zwar konnte sie sich nicht entsinnen, dass es in den letzten drei Jahren einen Mord in Mountain Brook gegeben hatte, aber er wirkte wie ein Mann, der schon viele gewaltsame Todesfälle gesehen hatte und wusste, wie man damit umgehen musste und was als Nächstes zu tun war. Mit seiner sachlichen Art verhinderte er emotionale Ausbrüche, weil ihn die Familie unbewusst nachahmte. Selbst Sarah war ihm in gewisser Hinsicht dankbar; solange er hier war, hatte er das Kommando. Sie brauchte nur zu kauen und zu schlucken.
Sie lauschte seinen ruhigen, zielgerichteten Fragen nach den Morddrohungen, die der Richter in der Vergangenheit erhalten hatte. Barbara hatte sie tatsächlich allesamt dokumentiert, was Sarah wieder vor Augen führte,
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