Ein Toter fuehrt Regie
Betriebswirte und Techniker, Soziologen und Futurologen, Systemtheoretiker und Managementberater über die Entwicklung der industriellen Verwaltung in Deutschland irgendwann einmal abgegeben hatten.
Aber er hatte Kopfschmerzen, und seine Gedanken gerieten immer wieder außer Kontrolle.
Zweimal bist du davongekommen. Aber beim drittenmal?
Sicher, die Calciumspritzen und die Tranquilizer taten ihr Teil, aber auch ohne sie wäre seine Angst nicht ins Unermeßliche gewachsen. Seit dem Zwischenfall auf der Avus wußte er, wie leicht das Sterben war. Sekunden nur. Besser so, als später jahrelang an Krebs dahinzusiechen oder an Multipler Sklerose. Und den einzigen Zweck seines Lebens hatte er erfüllt: ein Kind gezeugt. Wobei die Spezies Mensch auch ohne diesen Akt nicht vom Erdball verschwunden wäre. Und wenn Anna-Lena oder Alexander ohne Vater aufwuchsen, was tat’s schon: sie hatten ihre Mutter. Eine Mutter, die binnen eines Jahres einen neuen Mann als Vater gefunden hatte, einen, der hart war und erfolgreich, einen, dessen Bankkonto wenigstens sechsstellig war. Sie war hübsch, sie war charmant, und das Kind war sicherlich kein Hindernis.
Aber für ihn hatte sie kaum einen tröstenden Kuß übrig. Wir müssen es verdrängen, Bodo, das Kind kommt sonst als Kretin auf die Welt. Was er durchzumachen hatte, war für sie nichts weiter als eine Bagatelle, kaum mehr als ein gezogener Zahn. Dabei mußte sie doch klug genug sein, um zu sehen, daß Owi nicht spaßte. Kuhrings Wagen in die Luft geflogen und Zumpes Motorboot, und er von Owis Killer gegen die Leitplanke gedrückt. Der kleine Fiat war ein einziger Schrotthaufen, und die Lux lag im Krankenhaus: Gesichtsverletzungen, Nasenbeinbruch, Gehirnerschütterung und ein schwerer Schock. Überall konnte weiterer Sprengstoff verborgen sein, überall konnte Owis Killer auf der Lauer liegen, aber Annelie lachte nur darüber und meinte, Owi habe nur noch eine einzige Waffe: die Angst.
Brockmüller wühlte in einem Ordner mit fotokopierten Zeitschriftenartikeln herum und fand die erste Überschrift: Weitere Enthierarchisierung der Industrieverwaltung. Nun mußte er sich nur noch ein paar kluge Sätze einfallen lassen und mit ein paar Zitaten mixen.
Wo mochte der Mann in dem weinroten Peugeot stecken, der ihn um ein Haar… Immerhin hatte Olscha die Nummer erkennen können.
Er griff sich an die Brust, massierte die Herzseite. Wieder diese Atemnot. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er zusammenbrach. Aber wenn er zu Hause auf dem Sofa lag, wurde es nur noch schlimmer. Und Annelies Gleichgültigkeit gab ihm den Rest. Und dabei liebte er sie, das war ja das Verrückte. Je distanzierter sie sich gab, desto verrückter war er nach ihr. Aber… Na ja. Das Leben geht weiter.
Und das Sterben auch.
Immer wieder diese Stimme. Wie bei einem Schizophrenen.
Es klopfte.
Er erschrak, er mußte sich am Schreibtisch festhalten.
«Ja… Bitte…»
An seinen Schreibtisch schwebte – mehr Fata morgana als Wirklichkeit – ein Mädchen, dessen Bild er ebenso oft verdrängte, wie er es herbeizauberte: die höhere Schreibkraft Gabriele Gross, von der Hauptverwaltung zur zeitweiligen Vertretung der Lux herübergeschickt. Sie sah so aus, wie man aussieht, wenn man zwanzig ist und nur Boutiquen und Boys im Kopfe hat. Kupferfarben das lange Haar, viel Kupfer klimpernd an den Handgelenken. Braungebrannte Schenkel, deren Anblick ihm die Gewißheit gaben, daß seine Drüsen trotz aller nervlichen Belastung noch funktionierten.
Sie warf eine abgenutzte Umlaufmappe auf den Tisch. «Das Protokoll von der letzten Vorstandssitzung. Lesen Sie’s schnell noch mal durch und unterschreiben Sie’s, Herr Brockmüller.»
Es schmerzte ihn, daß sie ihn nicht duzte. Nach dem, was gewesen war. Aber offenbar zählte so etwas für sie nicht mehr als eine Fahrt mit der U-Bahn von Möckernbrücke bis Gleisdreieck.
Er war völlig außerstande, den Text zu kapieren, den er vor sich liegen hatte. Da stand sie nun neben ihm, zum Greifen nahe. Aber wenn er’s tat, dann kreischte sie wahrscheinlich prüde wie ‘ne alte Jungfer. Und wenn Annelie jemals erfuhr, daß er…
«Nun machen Sie doch schon – ich muß zurück!»
Dieses Aas!
Er unterschrieb blindlings. «Wir sehen uns ja nachher beim Betriebsfest…» Schildhorn, das Wasser, der Wald, der Wein…
Sie grinste. «Ich glaube kaum.» Und draußen war sie.
Brockmüller starrte aus dem Fenster. Mit Anfang Dreißig war man also aus dem Rennen… Sein
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