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Ein toter Lehrer / Roman

Ein toter Lehrer / Roman

Titel: Ein toter Lehrer / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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auf den Rücken klebte und Samuel den halben Tag damit herumlief, bevor er es bemerkte.
    Ich sollte nicht lachen. Ich lache auch eigentlich nicht. Es war damals nicht lustig, und es ist auch jetzt nicht lustig.
    Aber das war es, was mich zu ihm hingezogen hat. Er tat mir leid, ganz einfach. Na ja, und er sah auch nicht schlecht aus. Auch nicht direkt gut, nicht, was die meisten Leute darunter verstehen, aber er war irgendwie süß. Schöne Augen hatte er. Sie waren grün, fast grau. Liebe Augen, dachte ich die ganze Zeit. Wie idiotisch.
    Wir unterhielten uns das erste Mal nach diesem Vorfall, von dem ich eben erzählt habe, nach dem Krach mit TJ . Der Direktor führte TJ weg, und Samuel blieb da stehen; er sah schockiert aus, muss man fairerweise sagen, wie betäubt. Alle anderen im Raum waren verstummt, und nachdem TJ und der Direktor gegangen waren, räusperten sich die Leute, zogen die Augenbrauen hoch oder tuschelten. Niemand sah Samuel an, aber alle beobachteten ihn.
    Ich hab es einfach nicht ertragen. Ich fühlte mich so verlegen, wie er aussah. Ich meine, er hielt das Weinglas in der rechten Hand, nahm es in die linke und dann wieder in die rechte, und seine linke Hand hing zuckend an der Seite. Als Nächstes fingerte er an seiner Krawatte herum, sah an die Decke und ging dann am Büfett entlang, nahm sich aber nichts zu essen. Beim Biskuitkuchen hab ich ihn dann angesprochen.
    Lass dich von dem nicht ärgern, sagte ich zu ihm, und da lächelte er so eigenartig.
    Genau das habe ich mir auch gerade gesagt, hat er geantwortet, und da musste ich lachen. Ein wenig zu laut, ein wenig zu begeistert, und ich hab mich gehört, so wie die anderen mich gehört haben müssen, was einem ja nicht so oft passiert, nicht wahr? Grauenvoll. Ich schnitt mir ein Stück Kuchen ab.
    Er fragte mich, wie ich heiße, und ich antwortete, Maggie. Und du bist Samuel, sagte ich, und er nickte. Er fragte mich, was ich unterrichte, und fügte hinzu: Bitte lass mich nicht raten. Ich sagte: Tut mir leid, und er: Schon gut. Musik, antwortete ich. Ich unterrichte Musik, oder zumindest versuche ich es. Ah, sagte er und nickte.
    Magst du Musik?, fragte ich ihn, weil es das Einzige war, was mir einfiel, obwohl ich alles Mögliche hätte sagen können.
    Ja, antwortete er.
    Was ist denn so deine Musik?
    Ich mag die Russen, sagte er. Mozart mag ich nicht.
    Du magst Mozart nicht? Warum denn nicht?
    Weil ihn zu viele Leute mögen. Zu viele Leute schwärmen davon, wie wunderbar er ist.
    Ist das ein Grund, ihn abzulehnen?, fragte ich. Ich mag Mozart, müssen Sie wissen. Ich liebe Mozart. Jetzt umso mehr.
    Ja, antwortete er. Ich finde schon.
    Und ich sagte nichts, weil ich anderer Meinung war und nicht noch einen Streit vom Zaun brechen wollte. Stattdessen tat er
     es.
    Du bist nicht meiner Meinung.
    Nein, sagte ich. Das ist es nicht.
    Du findest, ich habe unrecht.
    Na ja, sagte ich. Nein. Ich meine, ja. Ich finde, du hast unrecht, aber das ist in Ordnung. Du hast ein Recht auf deine Meinung.
    Ich weiß, antwortete er. Und wie ist deine?
    Ich stellte den Kuchen ab. Ich wollte ihn eigentlich gar nicht, und das Stück war riesig. Ich finde, Musik sollte nicht durch Meinungen eingeengt werden, sagte ich. Wenn die Musik zu einem spricht, sollte man sich ihr öffnen. Was irgendjemand anderes denkt, sagt oder tut, sollte kein Grund sein, sich ihr zu verschließen.
    Er brummte. Dann grinste er.
    Was?, fragte ich.
    Du musst das ja sagen, antwortete er.
    Was?, fragte ich noch mal. Was muss ich sagen?
    Was du gerade gesagt hast. Du musst das sagen.
    Warum? Warum muss ich das?
    Weil du Musiklehrerin bist. Du musst so tun, als hättest du keinerlei Vorurteile.
    So tun? Glaubst du, ich tu nur so?
    Vielleicht, sagte er und brach sich eine Ecke von meinem Kuchen ab.
    Das ist mein Kuchen, sagte ich.
    Ich dachte, du willst ihn nicht.
    Wann hab ich denn gesagt, dass ich ihn nicht will? Natürlich will ich ihn.
    Hier, bitte, sagte er.
    Jetzt will ich ihn auch nicht mehr, antwortete ich und merkte im selben Moment, wie unhöflich ich gewesen war, als wäre der Kuchen jetzt irgendwie beschmutzt, weil er ihn angerührt hat.
    Ich glaube, ich gehe jetzt besser, sagte Samuel. Schön, dich kennengelernt zu haben.
    Ja, antwortete ich. Mehr bekam ich nicht heraus. Er ging, und alle anderen wirkten erleichtert, aber ich kam mir einfach nur
     idiotisch vor.
    Wissen Sie, das Besondere an Samuel war, dass er seine Meinung hatte. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass heutzutage niemand

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