Ein toter Lehrer / Roman
mehr eine Meinung hat? Die Leute reden zu viel und hören nicht zu, aber wenn sie reden, dann sagen sie nichts. Samuel wirkte reserviert, weil er still war, aber wenn man wirklich einmal mit ihm sprach – und ich meine sprechen, nicht plaudern, nicht, um Zeit zu überbrücken –, dann hatte man einen echten Gesprächspartner. Er hörte sich an, was man zu sagen hatte, hörte wirklich zu, und dann dachte er darüber nach, tat es oft ab und erzählte einem, wie er selbst darüber dachte. Seine Ansichten konnten zwar arrogant, undurchdacht und manchmal ein wenig unheimlich wirken, aber wenigstens hatte er eine Meinung.
Dann erzähle ich dir jetzt, was ich denke, sagte ich zu ihm, als ich ihn am ersten Schultag im Lehrerzimmer traf. Hier ist meine Meinung, wo du doch so viel Wert auf Meinungen legst. Mozart war der zweitgrößte Komponist, der je gelebt hat. Er war ein Genie. Tschaikowski war ein Schwachkopf und Rachmaninow ein sentimentaler Trottel.
Was ist mit Prokofjew?, fragte er, ohne zu zögern, ohne die geringste Verwunderung in der Stimme.
Überschätzt, antwortete ich, zweite Garnitur. Genauso ein sentimentaler Trottel.
Er nickte, und ich sagte: Erzähl aber bloß nicht den Schülern, dass ich das gesagt habe. Wenn sie fragen, erzähl ihnen, ich hätte gesagt, Prokofjew war auch ein Genie.
Danach unterhielten wir uns immer öfter. Nie in Gesellschaft. Nie, wenn jemand dabei war. Wenn wir im Lehrerzimmer waren, und es kam jemand herein, hörten wir auf zu reden, einfach so. Ich weiß nicht, warum. Ich glaube, ich nahm an, es sei ihm so lieber, und vielleicht dachte er dasselbe von mir. Vielleicht dachte er, das wäre einfacher für mich. Wenn man bedenkt, wer er war und was die anderen von ihm hielten, wissen Sie? Aber wir machten uns etwas vor. Alle wussten es. Die Lehrer, der Direktor und sogar die Schüler. Aus irgendeinem Grund wissen die Schüler immer alles.
Natürlich war ich es, die ihn gefragt hat, ob wir mal zusammen ausgehen wollen. Von sich aus hätte er nie gefragt. Es kostete mich einige Überwindung, das kann ich Ihnen sagen. Überwindung und einen Schluck Whisky aus der Flasche, die wir für Notfälle in dem Schränkchen unter dem Waschbecken stehen haben.
Beim ersten Mal hab ich ihn ins Kino eingeladen. Im Picturehouse lief irgendetwas vom Kontinent, und ich dachte, es gefällt ihm bestimmt, weil es vom Kontinent kommt. Ich weiß nicht, aber ich bin einfach davon ausgegangen, dass er ausländische Filme mag. Wie sich herausstellte, fand ich den Film toll und er grottenschlecht. Er nannte ihn prätentiös. Ich fand ihn bezaubernd. Er war auf Französisch, und ich liebe Französisch. Es ist so eine musikalische, lyrische Sprache. Ich ertappte mich irgendwann dabei, dass ich einfach nur zuhörte, die Untertitel nicht verfolgte und gar nicht mehr so richtig wusste, worum es ging. Er dagegen hat anscheinend auf jedes Wort geachtet, denn hinterher schimpfte er die ganze Zeit – Warum haben die das so und so gemacht, das macht doch niemand, und wer in aller Welt redet denn so? So analytisch, so übertrieben analytisch.
Das nächste Mal hab ich ihn zu einer Ausstellung eingeladen, zu Caravaggio in der National Gallery. Fast hätte ich es nicht getan, aber ich hätte ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn ich nicht noch einmal irgendeine Unternehmung vorgeschlagen hätte, denn ich wollte es eigentlich nicht, nicht nach dem Film. Ich beschloss also, dass eine Kunstausstellung genau das Richtige sei. Sie wissen schon, ruhig, formell, nachmittags statt abends. Damit würde ich deutlich zu verstehen geben, dass wir nur Freunde sind.
Es war herrlich. Ich verbrachte einen wunderbaren Nachmittag. Haben Sie Ahnung von Kunst, Detective? Ich überhaupt nicht. Ich weiß, was mir gefällt, und ich bewundere die meisten Sachen, die ich selbst nie könnte. Aber Samuel – er kann malen. Wussten Sie das? Er ist Maler. Aber was rede ich da. Er war Maler. Er war.
Nein, danke, wirklich, alles in Ordnung. Ich weine nicht deshalb. Sie wissen schon, seinetwegen. Es ist nur, ich weiß auch nicht. Die ganze Sache ist so …
Na ja. Wie auch immer. Samuel konnte malen. Er sagte zwar, er hätte schon eine Weile nichts mehr getan, aber er wusste so viel darüber und war so begeistert, so entzückt von alldem. Finden Sie es nicht auch erfrischend, mit jemandem zusammen zu sein, der eine Leidenschaft hat? Und sich davon überraschen zu lassen, dass jemand eine Leidenschaft hat, von dem man es nicht erwartet hatte?
Weitere Kostenlose Bücher