Ein toter Lehrer / Roman
machen. Seiner Erfahrung nach streiten sich alle Jugendlichen in Elliots Alter irgendwann einmal mit den anderen. Er sagte, alle Kinder seien mal in Raufereien verwickelt.«
»Raufereien.«
»Genau. Aber er sagte, er werde die Sache im Auge behalten. Und er werde auch das Kollegium darum bitten.«
»Und was ist passiert?«
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich nicht viel. Danach wurde es nicht viel besser, aber es wurde auch nicht schlimmer. Es hatte jedenfalls nicht den Anschein. Von den SMS hatten wir ja keine Ahnung.«
»Und später? Was war später?«
»Später?«
»Nachdem Elliot angegriffen worden war.«
»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.«
»Was hat der Direktor da gesagt?«
»Gar nichts so direkt. Na ja, was hätte er auch sagen sollen? Was hätte er tun können? Es gab ja keine Zeugen, Detective. Wissen Sie das nicht mehr?«
Sterb du opfa. Wenne zurückkomst fickn wa disch eh
Er war aufgestanden. Er hätte gehen können, nichts hielt ihn mehr davon ab, und doch stand er noch da. Er klammerte sich mit beiden Händen an der Stuhllehne fest. Lucias Blick fiel auf die Haut um seine Nägel herum. Kleine Fetzen waren abgeknabbert worden und hatten Spuren von Blut und wundem Fleisch hinterlassen.
»Es wird einen Riesenwirbel geben«, sagte Lucia. »Presse, Reporter. Sie werden sich wie die Geier auf die Sache stürzen. Auf Sie werden sie sich stürzen.«
Elliots Vater nickte.
»Vor allem wegen der Schule«, ergänzte Lucia. »Wegen dem, was passiert ist.«
»Wegen dem Lehrer. Dem Amoklauf.«
»Ja, deshalb. Warnen Sie Ihre Frau vor. Und Ihre Tochter.«
»Werde ich machen«, sagte er. »Habe ich auch schon.«
Lucia nickte. Sie wartete. Elliots Vater bewegte sich noch immer nicht.
»Irgendwann lässt es wieder nach«, sagte Lucia. »Wenn sie nicht weiterkommen, wenn sie keine Verbindung finden. Dann suchen sie sich etwas anderes.«
»Ja. Das hoffe ich.«
»Aber wenn ich Ihnen in der Zwischenzeit irgendwie helfen kann. Ich weiß nicht genau, wie. Aber Sie wissen ja, wo Sie mich finden.«
»Danke. Ich danke Ihnen.«
Lucia stand auf. »Es tut mir leid. Wirklich, es tut mir außerordentlich leid.«
Elliots Vater räusperte sich. Er klopfte seine Taschen ab, ließ den Blick über den Tisch schweifen. »Also dann«, sagte er und ging.
Das Zimmer war wieder dunkel, diesmal, weil der Schatten des gegenüberliegenden Gebäudes die Arme weit ausgestreckt und die Finger durch die Ritzen der Jalousie geschoben hatte.
Ey, pass auf Altah, wir sehn disch, auch wenne uns nich siehs
Lucia saß allein am Tisch, vor sich das Handy. Sie hatte die Daumen auf den Tasten und scrollte.
Stinkt deine mudda auch so nach scheiße?!
Sie stellte sich Elliot vor, im selben Zimmer wie seine Familie und gleichzeitig an einem Ort der Einsamkeit und des Schreckens,
an den ihn die Worte auf dem Display gezerrt hatten.
Was geht mit dein gesicht Opfa? Verreckse bald an krebs?
Sie versuchte, sich zu entscheiden, was sie an seiner Stelle getan hätte. Sie überlegte, aber im Grunde wusste sie, dass ihre Entscheidung bereits feststand. Wie Elliot hatte sie beschlossen, der Kraft der Verleugnung zu vertrauen, sich nur auf sich selbst zu verlassen und ohne jegliche Hilfe zu versuchen, mit dem fertigzuwerden, was andere ihr aufbürdeten.
Wasch dia das ding ausah fresse, oder solln wa mitm Messer helfen?
Und weshalb? Weil die Hilfe, die ihm angeboten wurde, kein bisschen hilfreich war. Elliot hatte seine Situation durchschaut. Seine Eltern meinten es gut, aber sie waren unfähig, ihm zu helfen. Seine Freunde, sofern er welche hatte, meinten es vielleicht ebenso gut, aber sie waren schwach. Dann war da natürlich noch die Schule, genauso wie für Lucia die Vorgesetzten. Aber genau wie Lucia war Elliot klug genug gewesen, es gar nicht erst zu versuchen.
Wenne redest, zünden wir dn haus an. CU
Samuel Szajkowski hatte es versucht. Mehr als ein Mal. Das war vielleicht das Einzige, was die Geschwindigkeit, mit der seine
Seele auf den Abgrund zugetaumelt war, etwas gebremst haben mochte.
Hallo Opfa, hf im kranknhaus. Kommse raus gehse wieda rein!
Elliot war nicht nur mutterseelenallein gewesen, man hatte ihn im Stich gelassen. Warum hätte
er
um Hilfe bitten müssen? Warum war man nicht auf ihn zugegangen und hatte sie ihm angeboten? Schließlich war es ein offenes Geheimnis gewesen. Diejenigen, die hätten eingreifen können: Sie wussten es. Weshalb waren stets die Schwachen in der Pflicht, wenn die Freiheit zum
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