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Ein toter Lehrer / Roman

Ein toter Lehrer / Roman

Titel: Ein toter Lehrer / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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mussten, drei Mal musste er wechseln, und ich weiß noch, wie Barry reagiert hat. Seitdem, und weil es aussah, als wäre in der Schule alles so weit in Ordnung, hab ich Barry nicht immer alles erzählt. Wenn Donnie zum Beispiel irgendwas angestellt hatte, wissen Sie. Weil ich Angst vor Barrys Reaktion hatte. Und ich dachte, solange es an der Schule einigermaßen läuft, ist es besser als vorher.
    Keine Ahnung, was ich damit eigentlich sagen will. Es ist schwierig, das ist alles. Es war wohl einfach nur so, dass Donnie seine Probleme hatte. Barry hatte nicht unrecht mit dem, was er gesagt hat, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Es gab noch eine andere Seite. Und wie gesagt, es ist weder Barrys Schuld noch die von Donnie, wenn überhaupt, ist es meine Schuld. Es ist bloß – ich werde den Gedanken nicht los, dass ich gern jemanden gehabt hätte, der mir hilft. Irgendwen, nur ab und zu. Denn wissen Sie, Mutter zu sein ist nicht leicht. Gut, ich hatte Barry. Ich war nicht ganz auf mich allein gestellt wie manche Frauen. Vielleicht liegt es ja auch nur an mir, aber ich muss schon sagen, ich fand es wirklich schwer. Und jetzt, nach allem, was passiert ist, na ja. Das ist das Schwerste.

D er Umschlag stand auf Lucias Tastatur, zwischen zwei Tastenreihen, und leuchtete ihr auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch von
     weitem entgegen.
    Zuerst dachte sie an den Direktor; vielleicht enthielt der Umschlag irgendeinen offiziellen Verweis. Er sah allerdings nicht sehr offiziell aus. Auf dem weißen, fensterlosen Kuvert stand nur ihr Name, in übergroßen Druckbuchstaben. Und während sich offizielle Korrespondenz normalerweise auf ein oder zwei Absätze auf einem einzelnen A4-Blatt beschränkte, war der Umschlag auf Lucias Schreibtisch prall gefüllt.
    Lucia sah sich um. Niemand beachtete sie. Walter saß zurückgelehnt an seinem Schreibtisch, die Füße wie gewöhnlich auf dem Tisch und die Tastatur auf dem Schoß. Charlie telefonierte, Harry blickte stirnrunzelnd auf seinen Bildschirm, und Rob hielt sich mit einer Hand an einer Tasse Kaffee fest und bohrte mit der anderen in der Nase.
    Lucia sank auf ihren Sessel und nahm ihre Tasche von der Schulter. Ihr Bildschirm versperrte ihr den Blick in den Raum, und sie beugte sich zur Seite, um zu sehen, ob jemand sie beobachtete. Niemand hatte sich gerührt. Lucia wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Umschlag zu. Sie nahm ihn in die Hand.
    Er war weich, wie ein Luftpolsterumschlag. Und er war mit Tesafilm verschlossen, als hätte die Gummierung nicht ausgereicht, und Lucia bemerkte angeekelt, dass an einer Seite ein dickes schwarzes Haar unter dem Klebeband eingeschlossen war. Sie drehte den Umschlag um und blickte noch einmal auf die Schrift auf der Vorderseite. LUCIA stand da – sonst nichts, nicht einmal eine Unterstreichung oder ein Punkt.
    Sie sollte ihn nicht öffnen, das wusste sie genau. Aber jetzt nahmen die Dinge ihren Lauf. Sie sollte ihn nicht öffnen, aber bevor sie ihn nicht öffnete, stand ihr Tag still. Wahrscheinlich hatte Walter oder jemand anders ihr den Umschlag hingestellt, und wahrscheinlich konnte auch sein Leben erst weitergehen, wenn die Falle zugeschnappt hatte. Je eher Lucia den Umschlag öffnete, desto eher würden sie lachen, und desto eher könnte Lucia die Augen verdrehen, den Inhalt in den Papierkorb werfen und wieder so tun, als stünde sie über solchen Dingen, als kümmerten sie sie nicht, als würden sie ihr überhaupt nicht das Gefühl geben, klein und verletzlich zu sein.
    Vielleicht war sie aber auch bloß paranoid. Vielleicht enthielt der Umschlag irgendetwas, was sie verloren, vergessen oder jemandem geborgt hatte und das sie nun zurückbekam. Sie wusste zwar nicht, was das sein könnte, aber das schloss die Möglichkeit ja nicht aus. Sie würde den Umschlag öffnen und beim Anblick des Inhalts sofort wissen, was, warum, wann und wo. Es wäre etwas so Banales, dass sie es samt Umschlag in die unterste Schublade werfen würde. Dann würde sie den Rest des Vormittags versuchen, die Stimme in ihrem Kopf zu ignorieren, die sich über ihre Unsicherheit, ihre Feigheit und das Gefühl der Erleichterung lustig machte, das sich in ihr ausgebreitet hatte.
    Lucia schob den Finger unter die Lasche, und kaum, dass sie den Umschlag aufriss, quoll auch schon der Inhalt heraus, und Lucia wusste sofort, dass sie auf ihren ersten Instinkt hätte hören und den Umschlag hätte liegen lassen sollen.
    Haare. Der Umschlag war voll von Haaren. Kurze, schwarze,

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