Ein Traum in roter Seide
du tust, mit so einem Mann wie ihm auf Kevins Hochzeit zu gehen. Auch wenn du dich noch so gut beherrschen kannst, irgendwann wirst du anfangen zu weinen. Dann nimmt er dich in die Arme, um dich zu trösten. Und ehe du begreifst, was mit dir passiert, liegst du schon mit ihm im Bett."
Michelle musste lachen. „Das beweist, dass du Tyler nicht kennst, sonst wüsstest du, wie lächerlich der Gedanke ist. Er in teressiert sich sexuell überhaupt nicht für mich, kein bisschen. Wir sind nur gute Freunde."
„Diesen Spruch kenne ich, er ist irgendwie ziemlich überstrapaziert.
Wie könnte ein einigermaßen normaler Mann dich so, wie du heute aussiehst, nicht für begehrenswert halten? Glaub mir, Michelle, du wirst alle anderen Frauen in den Schatten stellen. Die Junggesellen werden dir in Scharen folgen, und die verheirateten Männer würden es auch gern tun. Selbst wenn dein hoch geschätzter Mr. Garrison sich bisher wirklich nicht für dich als Frau interessiert hat, wird er spätestens heute seine Meinung ändern."
„Das glaube ich erst, wenn ich es sehe."
„Ach, es geschieht nicht sichtbar oder laut, sondern kommt auf leisen Sohlen auf dich zu, genau wie er, wie ein gefährlicher Wolf."
„So ist Tyler nicht. Nur damit du es weißt: Er war dabei, als ich wegen Kevin geweint habe. Und der gefährliche Wolf hat mich zwei Mal in die Arme genommen."
„Und? Was ist passiert? Erzähl mal."
„Nichts ist passiert. Er hat mir ein Taschentuch gegeben, da mit ich mir die Nase putzen konnte, dann hat er mich mit Worten getröstet.
Danach ist er gegangen."
„Oh ..." Sekundenlang sah Lucille ganz enttäuscht aus. „Na ja, dann ist es gut. Aber man kann bei den Männern nie vorsichtig genug sein.
Oft läuft alles nur auf Sex hinaus."
„Tyler hat mehr als genug Möglichkeiten, Sex zu haben. Er hat es nicht nötig, ausgerechnet mich zu verführen."
„Wann holt er dich ab? Die Trauung findet um vier in so einer alten 26
Kirche in North Chatswood statt, hast du gesagt, oder?"
„Wir wollen uns um halb vier unten im Foyer treffen", erwi derte Michelle.
Tyler hatte sie mehrmals angerufen und gefragt, wie sie sich fühle und ob sie ihn immer noch auf die Hochzeit begleiten wolle. Das letzte Mal hatte er vor drei Tagen mit ihr gesprochen. Da hatte sie schon das Kleid gekauft, und nichts und niemand hätte sie mehr daran hindern können, zu der Feier zu gehen.
Von Kevin hatte sie nichts gehört. Sie fand es immer noch un glaublich, dass er sie so schäbig behandelt hatte. Warum hatte er ihr überhaupt eine Einladung geschickt, wenn er mit ihr nichts mehr zu tun haben wollte? Wahrscheinlich machte es ihm sogar noch Spaß, so brutal und rücksichtslos zu sein. Eine andere Erklärung fand Michelle nicht.
Lucille blickte auf die Uhr. „Es ist schon Viertel nach drei. Hast du auch nichts vergessen? Dein Parfüm beispielsweise?"
„Das habe ich aufgetragen."
„Hast du deinen Schmuck?"
„Nein." Weil das lange Haar ihre Ohren verdeckte, brauchte sie keine Ohrstecker, und eine Halskette, die zu dem Kleid gepasst hätte, hatte sie nicht finden können.
„Du hast Recht", stimmte Lucille zu. „Das Kleid wirkt am besten ohne Schmuck. Schuhe?"
Michelle warf ihr einen belustigten Blick zu. „Die kann ich wohl kaum vergessen, oder?" Auf Lucilles Drängen hatte sie hochhackige Sandaletten gekauft. Während der vergangenen Woche hatte Michelle jeden Abend geübt, sich graziös und sicher auf den hohen Absätzen zu bewegen. Sie wollte sich nicht blamieren und ausgerechnet auf Kevins Hochzeit herumstolpern wie ein Trampel.
„Die Sandaletten finde ich Spitze", sagte Lucille schon zum hundertsten Mal. „Schade, dass du kleinere Füße hast als ich, sonst würde ich sie mir ausleihen. Hast du Geld, Schlüssel, Lippenstift, Parfüm, Taschentücher und Kondome?"
Michelle verdrehte nur die Augen.
Lucille zuckte jedoch unbeeindruckt die Schultern. „Okay, ich habe kein Vertrauen in das andere Geschlecht."
Michelle vergewisserte sich, dass sie alles, was sie brauchte, in ihre 27
schwarze Abendtasche gesteckt hatte, außer den Kondo men natürlich.
Sie besaß sowieso keine. Aber sie erinnerte sich, irgendwo in einer Schublade im Badezimmer noch ein Kondom entdeckt zu haben, als sie aufgeräumt hatte. Kevin hatte immer sehr darauf geachtet, sich zu schützen.
Jetzt war ihr klar, warum. Wahrscheinlich hatte er sie von Anfang an betrogen. Und Betrüger mussten nicht nur schlau, sondern auch vorsichtig sein, um nicht
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