Ein Traum in roter Seide
seine irgendwie besorgte Miene. Doch dann lächelte er schon wieder so spöttisch wie immer und schlug die Tür zu.
„Offenbar muss ich mich sehr anstrengen, damit du deine Meinung über mich änderst", stellte er fest, nachdem er einge stiegen war und sich angeschnallt hatte. „Ich muss dir beweisen, was für ein warmherziger, absolut treuer, aufrichtiger und unglaublich sensibler Mensch ich bin."
Michelle versuchte, das Lachen zu unterdrücken. Doch es gelang ihr nicht, und plötzlich sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. „O
Tyler, du bist einfach Spitze!"
Als er losfuhr und so tat, als ärgerte er sich, lachte Michelle immer noch.
4. KAPITEL
Michelle war das Lachen längst vergangen, als sie vor der Kirche ankamen. Sie war jetzt sehr nervös, und ihr verkrampfte sich der Magen. Glücklicherweise war die Braut noch nicht da. Doch alle Gäste waren in der Kirche versammelt und betrachteten die beiden Neuankömmlinge neugierig, die durch das Kirchenschiff auf der Suche nach freien Plätzen bis ganz nach vorn gingen.
Die Frauen musterten Tyler faszin iert, was Michelle auch nicht anders erwartet hatte. Sie hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass ihr viele 32
der jungen Männer in den eleganten, teuren Anzügen bewundernde Blicke zuwarfen. Sie kannte keinen davon. Es waren wahrscheinlich Geschäftsfreunde von Kevin oder Bekannte seiner Braut. Er hatte sowieso keine nahen Verwandten, die er hätte einladen können.
Jedenfalls hatte er nie jemanden erwähnt.
Seine Mutter, die vor zwei Jahren gestorben war, hätte er be stimmt nicht eingeladen. Sie war unverheirat et gewesen, und ihr Sohn hatte es ihr zeitlebens nicht verziehen, dass er in einer Sozialwohnung in einem Vorort im Westen der Stadt aufgewachsen war.
Damals, als er ihr von seiner Kindheit erzählt hatte, hatte Michelle Mitleid mit ihm gehabt. Aber jetzt bezweifelte sie, dass er Mitleid überhaupt verdiente. Sie wünschte plötzlich, sie wäre nicht gekommen, doch für solche Gedanken war es zu spät.
Als die Orgel einsetzte, kam der Pfarrer mit Kevin und zwei anderen Männern, alle in schwarzen Smokings, aus der Sakristei. Michelle beobachtete den Mann, den sie jahrelang geliebt hatte, und versuchte zum ersten Mal, ihn objektiv zu beurteilen.
Das gute Aussehen würde er im Lauf der Jahre verlieren. Seine Gesichtszüge waren zu weich, er war nicht muskulös und hatte keine kräftige Gestalt. Aber Michelle hatte sich wegen seines jun genhaften Aussehens und wegen seiner sanften Art zu ihm hinge zogen gefühlt.
Sogar jetzt noch, während sie ihn, wie sie hoffte, eher sachlich und emotionslos betrachtete, stürzten seltsam widersprüchliche Gefühle auf sie ein. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie nichts verlo ren habe, doch es tat ihr immer noch weh, dass er sich für das Geld seiner Braut entschieden hatte. Denn dass er Danni nicht liebte, war ihr klar.
O Kevin, dachte sie.
Als hätte er ihren Blick gespürt, sah Kevin sie auf einmal an. Er wirkte überrascht. Dann entdeckte er Tyler neben ihr und war geradezu schockiert.
Michelle empfand keine Befriedigung, und es stellte sich auch kein Gefühl des Triumphs ein. Sie fühlte sich nur schrecklich elend. Rache ist bestimmt nicht süß, wie immer behauptet wird, ich finde sie eher bitter, schoss es ihr durch den Kopf.
Schließlich ertönte der Hochzeitsmarsch, und Kevin wandte sich von ihr ab, um seine schöne Braut mit dem hellblonden Haar anzusehen.
Sie kam ihm in einem Traum aus weißer Seide und Spitze entgegen.
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Sein warmes Lächeln kannte Michelle allzu gut. Es hatte auch einmal ihr Herz höher schlagen lassen.
Beim Anblick der strahlenden Braut krallte Michelle die Fin ger in Tylers Arm. Ihr wurde bewusst, dass Kevin sie nie mehr so anlächeln würde. Wie sollte sie es ertragen, mit anzuhören, wie er einer anderen Frau Liebe und Treue versprach? Und wie könnte sie mit ansehen, dass er eine andere Frau nach der Trauung küsste?
„Wir können gehen, wenn du möchtest", flüsterte Tyler ihr zu.
Sie überlegte kurz. Doch dann entschloss sie sich, nicht mehr feige davonzulaufen. Das hatte sie, was Kevin betraf, lange genug getan.
„Nein", stieß sie hervor, „ich bleibe hier." Und das tat sie auch.
Seltsamerweise war dann alles gar nicht so schlimm. Sie zuckte noch nicht einmal zusammen, als Kevin die Braut küsste. Als die Trauung beendet war und die Gäste hinter dem glücklichen Brautpaar ins Freie drängten, fühlte Michelle sich wie be täubt.
„Komm mit", forderte
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