Ein Traum in roter Seide
alles. Du hast es noch nie erwähnt."
„Es ist ja auch für uns beide noch relativ neu. Stimmt's, Michelle?"
„Ehm ... ja." Sie war keine gute Schauspielerin, aber Tyler wirkte sehr überzeugend. Mit seinem guten Aussehen und dem Talent hätte er als Filmschauspieler Karriere machen können.
„Dafür kann ich mich bei dir bedanken, Kevin", fuhr er unbekümmert fort. „Wenn ihr euch nicht getrennt hättet, wäre sie nie mit mir ausgegangen. Und ich hätte nie herausgefunden, was für eine außergewöhnliche Frau sie ist. Dabei hatte ich all die Jahre geglaubt, sie gut zu kennen. Aber ich hatte mich getäuscht. Eine gute Freundin ist doch etwas anderes als eine Partnerin. Wahrscheinlich kann sie dasselbe von mir sagen. Nachdem du mich besser kennen gelernt hast
- und nicht nur im übertragenen Sinn -, Liebling, ärgerst du dich nicht mehr so oft über mich wie früher, oder?"
Michelle tat ihr Bestes, glaubhaft mitzuspielen. Tyler konnte ziemlich hinterhältig sein, wenn er wollte. Er hatte sie Liebling genannt und so getan, als hätten sie eine intime Beziehung. Aber Kevins Miene gefiel ihr, er war offenbar schockiert und eifersüchtig zugleich. Vielleicht 36
war Rache doch süß!
„Jedenfalls viel seltener", stimmte sie Tyler betont liebevoll zu.
„Na bitte! Kevin, ich glaube, deine Frau sucht dich. Geh schon, mein Freund. Jetzt brechen andere Zeiten für dich an. Orgien und nächtelange Trinkgelage kannst du vergessen."
Nachdem Kevin sich mit mürrischer Miene von seiner Frau hatte wegziehen lassen, lächelte Tyler seine Schwest er an. Dann legte er Michelle den Arm um die Schultern und zog sie an sich.
„Wie du siehst, ist alles in Ordnung, Schwesterchen. Alle sind zufrieden, es gibt keine Probleme."
Cleo lächelte wehmütig. „Es ist noch zu früh, um das zu be haupten, Tyler. Wir sehen uns ja jetzt öfter, Michelle. Bis später." Dann verschwand sie.
„Was hat sie damit gemeint, Tyler?" fragte Michelle.
„Nichts. Das war typisch für sie. Sie glaubt, sie wisse alles. Aber da täuscht sie sich."
„Offenbar weiß ich auch nicht alles, und das irritiert mich."
„Cleo glaubt, wir seien zusammen. Deshalb nimmt sie an, ich würde dich jetzt öfter mit nach Hause bringen."
„Wie willst du ihr später erklären, warum du es nicht tust?"
„Ach, darüber mache ich mir Gedanken, wenn es so weit ist."
„Das ist sowieso deine Lebensphilosophie, oder? Du nimmst jeden Tag, wie er kommt, und machst dir keine Sorgen."
„Das stimmt nicht ganz. Aber es bringt mir nichts, wenn ich mir Sorgen mache. Ich handle lieber und werde aktiv, sobald es nötig ist.
Geht es dir jetzt besser als vorhin in der Kirche?"
„Seltsamerweise ja", erwiderte sie und konnte selbst kaum glauben, wie rasch ihre deprimierte Stimmung verschwunden war.
„Bist du bereit, mit auf den Empfang zu gehen?"
„Ein oder zwei kühle Drinks würden mir die Sache sicher erleichtern."
„Mit Alkohol kann man keine Probleme lösen."
„Stimmt, aber eine Zeit lang fühlt man sich besser."
„Hoffentlich muss ich dich heute Abend nicht in deine Wohnung tragen."
„Du warst ausdrücklich damit einverstanden, heute mit mir auf die Hochzeit zu gehen", erinnerte sie ihn. „Und es war dein Vorschlag, so zu tun, als wären wir ein Paar. Deshalb musst du auch die 37
Konsequenzen tragen."
„Könnte eine Konsequenz sein, dass ich dich später ausziehen und ins Bett legen muss?" In seinen blauen Augen blitzte es be lustigt auf.
Dann ließ er den Blick vielsagend über ihre schlanke Gestalt gleiten.
„Ich gestehe, das ist ein faszinierender Gedanke."
Michelle errötete, obwohl ihr klar war, dass er nur scherzte. „Hör auf mit dem Unsinn, und lass uns fahren", forderte sie ihn rasch auf, damit er ihre Verlegenheit nicht bemerkte.
„Natürlich, wie du willst. Wohin möchtest du?"
Sie sah ihn ärgerlich an. „Du tust so, als würde ich dich ständig herumkommandieren."
„Ja, so ist es doch auch. Du bist ein Kontrollfreak, außerdem bist du sehr ehrgeizig."
„Also wirklich!" Sie verschränkte die Arme und warf ihm einen bösen Blick zu. „Mach weiter. Habe ich vielleicht auch gute Eigenschaften?"
„Nein", antwortete er mit Pokermiene. „Nicht nach heutigen Maßstäben. Heutzutage weiß niemand mehr Ehrlichkeit und Loyalität zu schätzen. Man verachtet Menschen, die hart arbeiten und weiterkommen wollen. Und man hat nichts mehr übrig für Pünktlichkeit und Professionalität. Gefragt sind Eigenschaften wie
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