Ein Traum in roter Seide
ernst."
„Ja, weil du von dem wunderbaren Tyler abgelenkt wirst. Wie würdest du reagieren, wenn Kevin seine Frau verlässt und wieder vor deiner Tür steht?"
Auf diese rein hypothetische Frage fiel Michelle keine Antwort ein.
Dazu war sie viel zu sehr mit der Gegenwart und der unmit telbaren Vergangenheit beschäftigt. Sie konnte einfach nicht vergessen, wie 71
Tyler an diesem Morgen aus ihrem Bett gestiegen war und verkündet hatte, er könne unmöglich arbeiten.
„Ich bin völlig erledigt, und das ist deine Schuld, meine Liebe", hatte er sich beschwert.
„Was habt ihr sonst noch das ganze Wochenende gemacht?"
unterbrach Lucille Michelles Gedanken.
„Nicht viel", gab Michelle zu und errötete.
„Das kann ich nicht glauben!" rief Lucille aus.
„Zwischendurch sind wir mal aufgestanden und haben etwas gegessen. Ferngesehen haben wir auch manchmal, und wir haben uns unterhalten."
„So?" Lucille blickte sie spöttisch an. „Worüber denn? Vielleicht über im Kamasutra nicht aufgeführte Liebesstellun gen?"
„Über mein e Familie. Tyler hat gesagt, er wolle alles über mich wissen."
„Wie clever! Eine Frau ist immer beeindruckt, wenn ein Mann persönliche Fragen stellt und zuhören kann. Das ist ein geschickter Schachzug. Aber die Absicht ist klar: Je mehr er auf eine Frau eingeht, desto eher ist sie bereit, immer wieder mit ihm zu schlafen."
Lucille hatte nicht ganz Unrecht mit ihrer sarkastischen Bemerkung, wie Michelle sich eingestand. Auch Kevin hatte sie ge warnt und behauptet, wenn Tyler alles erreicht hätte, was er von ihr wollte, würde er sie fallen lassen.
Sie erinnerte sich an seine Worte beim Abschied an diesem Morgen.
Tyler hatte erklärt, er hätte dringende Termine und sie könnten sich erst wieder am Freitagabend sehen. Hatte er wirklich so viel zu tun?
Oder war das der Anfang vom Ende? War es etwa schon so weit?
Michelle war plötzlich ziemlich deprimiert und empfand einen tiefen seelischen und körperlichen Schmerz.
„Was hast du?" fragte Lucille prompt. „Was ist passiert?"
„Nichts", murmelte Michelle und sah ihre Freundin gequält an.
So leicht ließ Lucille sich nicht täuschen. Michelles Augen wa ren sozusagen die Fenster ihrer Seele und konnten nicht lügen. Sie hat sich schon viel zu sehr mit diesem schlimmen, aber at traktiven Kerl eingelassen, überlegte Lucille. Doch was konnte sie tun? Sie konnte ihr später, wenn es so weit war, helfen, den Kummer zu überwinden.
Das war alles. Michelle ist nicht so stark und erfahren wie ich, ich 72
komme mit einer rein sexuellen Beziehung zurecht, das glaube ich jedenfalls, sagte Lucille sich. Vorausgesetzt natürlich, sie würde den richtigen Mann für so eine Beziehung kennen lernen. Aber Michelle war für so kaltblütige Überlegungen weder hart noch zynisch genug.
„Lass den Kaffee nicht kalt werden", riet Lucille ihr. Dann wechselte sie das Thema.
Später konnte Michelle sich kaum auf die Arbeit konzentrieren. Ihre Ängste ließen sich nicht verdrängen. Dabei mussten sie und ihre Kollegen Ende nächster Woche Packard Foods den Entwurf für die Werbekampagne präsentieren. Glücklicherweise waren sie gut mit der Arbeit vorangekommen. Dennoch konnte Michelle jetzt keinen Stress und keine Komplikationen in ihrem Leben gebrauchen.
„Wie weit bist du, Michelle?"
Sie fuhr erschrocken zusammen und sah auf. Ihr Chef stand ihr gegenüber am Schreibtisch und blickte sie mit seinen stahlgrauen Augen an. Sie bemühte sich, sich nicht irritieren zu lassen. Doch Harry Wilde brachte seine Mitarbeiter immer aus dem Konzept.
Er war ein Workaholic und Perfektionist, recht schwierig im Umgang, und er verlangte viel. Über sein Privatleben war seinen Mitarbeitern wenig bekannt. Er hatte Ende der achtziger Jahre zu der neuen Generation hoch begabter junger Leute gehört, die in der Werbebranche Furore gemacht hatten. Hier in Sydney hat te er für ein amerikanisches Unternehmen gearbeitet. Mit fünfundzwanzig hatte er seinen Job aufgegeben und sich mit einem einzigen Mitarbeiter selbstständig gemacht. Als Büro diente ihm sein kleines Apartment, und statt einer Telefonistin hatte er einen Anrufbeantworter.
Im ersten Jahr hatten die anderen Werbeagenturen in ihm keine ernsthafte Konkurrenz gesehen. Man hielt ihn für verrückt und merkte nicht, was für ein brillanter Fachmann und wie rücksichtslos er wirklich war. Die Aufträge, die er bekam, waren kaum der Rede wert, wie man allgemein glaubte. Doch als es ihm gelang, der
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