Ein Tropfen Zeit
verwirrt; ich hatte etwas Ähnliches wie jenen Herbsttag vom letztenmal erwartet, als Bodrugan ertränkt wurde und Roger die triefende Leiche zu Isolda trug. Jetzt war ich allein, ohne Führer; nur am Fluß zu meinen Füßen erkannte ich, daß ich mich im Tal befand.
Ich folgte ihm stromaufwärts, wobei ich mich vorwärts tastete wie ein Blinder, und mein Instinkt sagte mir, daß der Wasserlauf irgendwo schmaler werden mußte, die Ufer sich zusammendrängen würden und ich eine Brücke oder eine Furt finden mußte, die mich auf die andere Seite führte. Nie hatte ich mich hilfloser oder verlorener gefühlt. In dieser anderen Welt berechnete man die Zeit tagsüber nach dem Stand der Sonne am Himmel und nachts nach den Sternen, aber jetzt, in der Stille und im Schnee, fand ich keinen Anhaltspunkt, um zu beurteilen, ob es Morgen oder Nachmittag war. Ich war verloren, nicht in der Gegenwart mit den vertrauten Merkmalen der Landschaft und der beruhigenden Nähe meines Wagens, sondern in der Vergangenheit.
Ein Geräusch durchbrach die Stille. Ein Klatschen im Fluß vor mir, und als ich vorwärts lief, sah ich einen Otter vom Ufer hinabtauchen und stromaufwärts schwimmen. Hinter ihm her jagte ein Hund, und dann ein zweiter, und bald darauf bellten und heulten etwa sechs Hunde am Ufer und tappten ins Wasser dem Otter nach. Jemand rief etwas, ein anderer nahm den Ruf auf, und jetzt liefen mehrere Männer auf den Fluß zu. Schreiend und lachend hetzten sie die Hunde auf das Tier. Zwei von ihnen stiegen ins Wasser hinab und hieben mit Stöcken darauf ein, und der dritte, der eine lange Peitsche hielt, knallte mit ihr in der Luft und stachelte einen der Hunde an, der am Ufer gekauert hatte und jetzt seinen Gefährten nachschwamm.
Ich trat näher, um sie zu beobachten, und sah, daß der Fluß sich etwa hundert Meter vor mir verengte, während er sich zur Linken seeartig verbreitete. Auf diesem Miniatursee hatte sich eine dünne Eisschicht gebildet.
Männer und Hunde trieben den Otter in den schmalen Flußarm, der den See speiste, und gleich darauf waren sie über ihm; die Meute kläffte, und die Männer schwangen ihre Knüppel. Die Hunde tappten mühsam umher, während das Eis unter ihnen nachgab; bald färbte das Wasser sich scharlachrot, und Blut spritzte auf die dünne weiße Schicht über dem schwarzen Wasser, als der Otter, von gierig zuschnappenden Kiefern gepackt, auf das Eis gezerrt und in Stücke zerrissen wurde.
Der See war wohl nicht sehr tief, denn die Männer, die die Hunde aufhetzten, schritten darüber hin, ohne auf die Sprünge zu achten, die plötzlich im Eis entstanden. An der Spitze ging der Mann mit der langen Peitsche, der seine Gefährten durch seinen hohen Wuchs überragte und sich auch durch die Kleidung von ihnen unterschied. Er trug einen wattierten, bis zum Kinn hinaufgeknöpften Überrock und eine hohe spitze Bibermütze.
»Treibt sie ans Ufer!« schrie er. »Lieber verliere ich euch alle als einen von meinen Hunden!« Dabei bückte er sich über der kläffenden Meute, hob die Überreste des Otters auf und schleuderte sie über den See an das schneebeckte Ufer. Die Hunde, die sich ihrer Beute so plötzlich beraubt sahen, liefen und rutschten über das Eis, um sie zu apportieren, während die Männer, weniger behende als die Hunde und durch ihre Kleidung behindert, fluchend und schreiend durch das einbrechende Eis stapften.
Die Szene war brutal und makaber zugleich. Der Mann mit der Pelzmütze wandte sich, sobald er seine Hunde in Sicherheit wußte, seinen Gefährten zu. Er selbst war zwar auch bis an die Hüften naß, aber er trug wenigstens Stiefel, während einige seiner Knechte – denn dafür hielt ich sie – ihre Schuhe im Schnee verloren hatten und mit frierenden Händen vergeblich nach ihnen suchten. Ihr Herr gewann, immer noch lachend, das Ufer, nahm die Mütze ab, um die Schneeflocken abzuschütteln, und setzte sie wieder auf. Jetzt erkannte ich das hochrote Gesicht und das lange Kinn, obgleich er etwa zehn Meter von mir entfernt stand. Es war Oliver Carminowe.
Er starrte wie gebannt in meine Richtung. Zwar sagte mir die Vernunft, daß er mich nicht sehen konnte, da ich in seiner Welt nicht existierte, aber wie er so dastand, reglos, den Kopf mir zugewandt, ohne seine unwillig murmelnden Knechte zu beachten, kam in mir ein seltsam unbehagliches Gefühl, beinahe Furcht auf.
»Wenn du mit mir reden willst, so komm herüber und sag's«, rief er plötzlich. Ich lief, vor Schreck, mich
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