Ein Tropfen Zeit
am Abend zuvor bemerkt –, die ich jetzt herausholte und unter dem Kaltwasserhahn ausspülte. Dann ging ich ins Souterrain und drehte den Schlüssel in der Labortür. Genau wie tags zuvor nahm ich die abgemessene Tropfenzahl aus der Flasche A, diesmal aber goß ich sie in das kleine Fläschchen. Dann schloß ich das Labor wieder, ging über den Hof zu den Stallgebäuden und holte den Wagen heraus.
Ich fuhr langsam den Fahrweg hinauf, dann nach links auf die Hauptstraße, den Polmear Hill hinab und hielt an, als ich unten ankam, um die Gegend zu überblicken. Hier, wo heute das Armenhaus und das Wirtshaus standen, war gestern noch die Furt gewesen. Die Landschaft hatte sich bis auf die moderne Straße nicht geändert, aber im Tal, das gestern noch teilweise von den Fluten bedeckt wurde, breitete sich jetzt ein Sumpfgelände aus.
Als ich den abschüssigen Weg zum Dorf hinter mir hatte, parkte ich den Wagen oberhalb der Kirche. Immer noch fiel ein leichter Regen, und es war kein Mensch zu sehen. Ein Lieferwagen kam die Hauptstraße vom nächsten Ort herauf und verschwand wieder. Aus dem Kaufmannsladen trat eine Frau und ging in die gleiche Richtung. Sonst weit und breit niemand. Ich stieg aus dem Wagen, öffnete die Eisentüren des Friedhofs und stellte mich in die Vorhalle der kleinen Kirche, wo ich vor dem Regen geschützt war. Der Friedhof senkte sich nach Süden hin bis zur Mauer, die ihn abschloß, dahinter sah ich Bauernhäuser. Gestern, in jener anderen Welt, waren dort keine Gebäude gewesen, nur das blaue Wasser einer kleinen Bucht, das bei Höchststand der Flut das Tal füllte, und wo heute der Friedhof lag, erhoben sich gestern die Gebäude der Priorei.
Jetzt kannte ich das Gelände schon besser. Wenn die Droge wirkte, konnte ich den Wagen dort lassen, wo er war, und zu Fuß nach Hause gehen. Ich nahm das Fläschchen und schluckte den Inhalt. Im gleichen Augenblick packte mich panische Angst. Diese zweite Dosis konnte eine ganz andere Wirkung haben als die erste. Vielleicht würde ich stundenlang schlafen. Sollte ich bleiben, wo ich war, oder war ich im Wagen besser aufgehoben? Die Vorhalle der Kirche flößte mir Platzangst ein, darum ging ich hinaus und setzte mich auf einen Grabstein unweit des Weges, von dem aus man mich nicht sehen konnte. Wenn ich mich ganz still verhielt und mich nicht rührte, würde vielleicht nichts geschehen. Ich betete: »Sorge dafür, daß nichts passiert, daß die Droge keine Wirkung hat.«
Ich saß noch fünf Minuten lang da und fürchtete mich so sehr, daß ich den Regen gar nicht beachtete. Dann hörte ich, wie die Kirchenglocke drei schlug, und blickte nach meiner Uhr, um zu sehen, wie spät es war. Sie ging ein paar Minuten nach; während ich sie richtigstellte, hörte ich Rufe oder Beifallsgeschrei – eine seltsame Mischung von beidem – vom Dorf her und das knirschende Geräusch von Rädern. Um Himmels willen, was nun, dachte ich, ein Wanderzirkus, der die Dorfstraße herunterkommt? Ich muß den Wagen wegfahren. Ich stand auf und wollte zum Friedhofstor gehen. Aber ich kam nicht hin, denn das Tor war verschwunden, und ich sah durch ein rundes Fenster in einer Mauer auf einen Hof mit gepflasterten Wegen.
Das Tor am anderen Ende des Hofes stand weit offen, und dahinter erkannte ich eine auf dem Dorfplatz versammelte Menschenmenge, Männer, Frauen und Kinder. Das Geschrei kam von ihnen und das Geräusch der Räder von einem riesigen geschlossenen fünfspännigen Wagen; zwei der Pferde trugen Reiter. Der hölzerne Baldachin über dem Wagen war mit leuchtendem Purpur und Gold bemalt. Jetzt wurden die schweren Vorhänge, die das Wageninnere verbargen, zurückgezogen, Geschrei und Applaus der Menge schwollen an, und die Gestalt, die in der Öffnung sichtbar wurde, hob segnend die Hände. Sie war in prunkvolle kirchliche Gewänder gekleidet, und ich erinnerte mich sogleich, daß Roger und der Prior vom bevorstehenden Besuch des Bischofs von Exeter gesprochen hatten, und wie sehr der Prior diesen Besuch fürchtete – zweifellos mit Recht. Das mußte Hochwürden selbst sein.
Eine plötzliche Stille trat ein, und alle knieten nieder. Das Licht blendete fast, aus meinen Gliedern war jedes Gefühl gewichen, und mir schien alles gleichgültig – die Droge mochte wirken, wie sie sollte. Mein einziger Wunsch war, an der Welt, die mich umgab, teilzunehmen.
Ich sah, wie der Bischof aus dem Gefährt stieg und die Menge sich vorwärtsdrängte. Er schritt durch das Tor in den
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