Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now
über sich nachgedacht hatte und zu der Einsicht gelangt war, daß ihr die meisten Dinge gleichgültig waren, hatte sie jetzt ein Recht auf ihren kleinen Teil Freiheit. In diesem Augenblick wünschte ich mir, ich hätte ihr angeboten, sie in die Kirche zu begleiten, aber sie hätte mir wahrscheinlich gesagt, das sei unnötig und ich solle nicht rührselig werden, sondern mich lieber meinem Alter entsprechend verhalten.
Als ich an jenem Tag in die Dorfkirche ging, wünschte ich mir deshalb, ich wäre nicht allein. Ich war früh dort und drückte mich lange am Taufbecken herum, über dessen Steinoberfläche ich immer wieder strich, schnappte mir dann ein kleines, dickes, rotes Buch und ein dünneres blaues, beide mit herausfallenden und,
wie ich später feststellen mußte, sogar fehlenden Seiten. Sollten sie noch ein Jahrhundert durchhalten, hätten sie so ziemlich dieselbe Farbe, ein bräunliches Purpur mit hellen Stellen, wo der Kartoneinband bereits durchgescheuert war. Anschließend ging ich nach hinten und setzte mich ans Ende einer Reihe, wo ein Kniekissen lag. Es ließ sich nicht mehr feststellen, welche Muster und Farben es gehabt hatte, als es neu war, jetzt waren nur noch fleckige Grauabstufungen zu sehen, und die Füllung war klumpig und plattgedrückt. All die hin- und herrutschenden Knie in so vielen Jahren, all die Insekten, die ihre Nester verließen. Ich blätterte in den Büchern, während die anderen hereinströmten und in den Reihen weiter vorn Platz nahmen, kurz den Kopf in die Hände legten und sich dann aufrecht hinsetzten und zu den Fenstern hochschauten, wie um sich bewußt zu machen, daß sie nicht sehr lange hierbleiben mußten. In diesem Augenblick vermißte ich meinen Vater, der sich auf das Singen freute, vermißte ihn so sehr, daß ich mich sagen hörte: »Ach, Dad, was tue ich bloß hier, und was hast du dir dabei gedacht, dich einfach so aus dem Staub zu machen?«
Ungefähr zwanzig Personen saßen in der Kirche, als der Gottesdienst begann: der Colonel und seine Frau mit zwei anderen, jüngeren Leuten (Kinder auf einem Wochenendbesuch?), Jenners und seine Gattin und noch eine Frau, das Paar aus dem Dorfladen, sowie Sidney ganz allein. In der ersten Reihe saßen vier Senioren, ordentlich und gut verpackt in Grau- und Brauntönen, die ich seitdem nicht mehr gesehen habe. Auf der anderen Seite saß ein Trio aus identisch kurz gestutzten Grauschöpfen, die lockere, gesprenkelte Kleidungsstücke trugen, als hätten sie in einem Sturm unter einem Baum gestanden, und Rindenstücke, Zweige und Blätter wären auf sie herabgefallen. Mir fiel ein, daß ich zwei davon beim Verlassen der Klinik gesehen hatte, als ich gerade hineinging und die Frau des Colonels sagen hörte: »Unsere Dorfkünstler, sind sie nicht süß?« Dann waren da noch fünf andere, die ich zu der Zeit ein- oder zweimal gesehen hatte, ohne aber mit ihnen zu reden, darunter auch ein Paar im Sonntagsstaat, das so abgestumpft aussah, als würden die beiden kaum noch miteinander reden und wären jetzt endlich an einem Ort gelandet, wo das keine Rolle mehr
spielte. Und schließlich gab es noch zwei Frauen und einen Mann, die für den Golfplatz angezogen waren. Sie saßen zwei Reihen vor mir, und der Mann hatte beim Beten einen Daumen über den anderen gelegt und bewegte ihn hin und her, als würde er seine Chip Shots üben. Die Frauen tuschelten viel, und ich meinte die Wörter »Vierer«, »Siebtes« und »offen« zu verstehen, doch das hätte natürlich auch damit zu tun haben können, daß sie sich in den Büchern erst zurechtfinden mußten.
Zu allem Überfluß spielte der Vikar auf dem Harmonium und entlockte ihm einen verzweifelten Lärm, der den dünnen Gesang so gut wie übertönte. Ich stimmte Zeile eins des ersten Lieds (»Es gibt ein Buch, der Eilende mag lesen« – ein alternatives Handbuch für den Jogger?) zu hoch an, fiel aber sofort in die Tonlage der anderen und sogar noch etwas tiefer, als zwei Köpfe sich umdrehten. Ich war auch der einzige, der nicht nach vorn zur Kommunion ging. Auf dem Rückweg schauten mich alle schuldbewußt an, als hätte ich sie bei etwas Heuchlerischem oder Schäbigem ertappt, bis auf Sidney, der mir mit einer halbkreisförmigen Handbewegung vor seiner pflaumenfarbenen Weste zuwinkte. Ich trug meinen anthrazitfarbenen Nadelstreifenanzug, den ich noch aus der Zeit meiner Vorstandssitzungen hatte, und hob jetzt die Hand zum Hals, um meine floral gemusterte, gelbe und malvenfarbene
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