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Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now

Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now

Titel: Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Chadwick
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ermuntern. Als ich einmal zu Agnes hinüberschaute, zeigte sie mir den hochgereckten Daumen. Der Colonel neben ihr war auf Parade, er starrte stur geradeaus, und nach der zweiten Strophe war er kaum weniger hörbar als Maureen. Mit der Zeit schenkten die beiden uns anderen mehr Selbstvertrauen, der Vikar bewegte den Oberkörper vor und zurück und schwenkte hin und wieder den rechten Arm, was vorwiegend den Kunsthandwerkern in der ersten Reihe galt, die
mit gesenktem Kopf dasaßen und überhaupt nicht zu singen schienen. Sogar ich bellte ein bißchen und bemühte mich, wenigstens ungefähr in der richtigen Oktave zu bleiben, begnügte mich letztendlich jedoch mit den mittleren Bereichen. Das Ganze endete in einem ziemlichen Crescendo, wobei Maureen am längsten aushielt, und als wir eben unsere Liederbücher zuklappen wollten, sagte der Vikar: »Warum singen wir die erste Strophe nicht noch einmal. Also noch mal von vorn. Laßt was hören!«
    Und das taten wir auch: »Neu jeden Morgen ist die Liebe, unser Erwachen und Erheben es bewies.« Ich stieß Maureen an, aber sie reagierte nicht darauf. Ich wünschte mir, ich hätte es nicht getan. Schuljungenhumor, dachte ich. Im Lauf der Jahre fällt es mir nicht leichter, mich über mich selber zu erheben, aber auch nicht mehr so schwer, sonst hätte ich diesen Satz nicht stehengelassen.
    Der Vikar bezog das Motto für seine Predigt aus der Lesung, die der Colonel vorgetragen hatte: »Sorget euch nicht um den morgenden Tag, denn der morgende Tag wird seine eigene Sorge haben... Jeder Tag hat genug an seiner eigenen Plage.« Offensichtlich wollte er darauf hinaus, daß man, wenn man sich zu viele Gedanken um die Zukunft macht, Gefahr läuft, das zu übersehen, worüber man sich wirklich Gedanken machen sollte. Er zitierte auch einen Dichter: »Um uns ist zuviel Welt: tagein, tagaus/Verzehrn wir uns im Raffen und Vergeuden.« Ich denke noch immer über diese Konzepte nach und versuche, sie miteinander in Einklang zu bringen. Vielleicht versteht man so etwas leichter, wenn man jünger ist. Ich vergeudete jetzt, was ich früher zusammengerafft hatte, und raffte inzwischen nicht mehr viel von irgendwas, und die morgenden Tage hatten deshalb keine großen Plagen mehr, eigentlich überhaupt keine; das sollte man doch wohl auch berücksichtigen, oder? Der Vikar packte nun die Kanzel und beugte sich vor, was ihm die Schultern nach oben schob, weil die Kanzel blieb, wo sie war. Nach einer langen Pause fing er an, über das Jenseits irgendwo da oben und/oder da draußen zu sprechen, das auch die lange Geringfügigkeit des Lebens umfaßte.
    In diesem Augenblick hatte der Colonel einen seiner Hustenanfälle. Zuerst versuchte er, ihn zu unterdrücken, er beugte sich
vor und preßte sich ein Taschentuch an den Mund, während Agnes ihm auf dem Rücken klopfte. Dann richtete er sich wieder auf, schlug sich mit der Faust an die Brust und räusperte sich mehrmals, das Taschentuch nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt, während sich sein Gesicht von Dunkelrot zur Farbe einer überreifen und gesprenkelten Pflaume veränderte. »Gottverdammte Scheißbronchien«, sagte er laut, bevor er ein letztes Mal hustete und spuckte, wobei ein Großteil des Resultats nicht in seinem Taschentuch gelandet sein dürfte, sondern, allerdings ohne dort groß aufzufallen, auf dem Dreieck aus gesprenkeltem, beigem Stoff, das der Kunsthandwerkerin direkt vor ihm von den Schultern hing. Unterdessen hantierte der Vikar mit seinen Notizen, als habe er nun vor, einen größeren theologischen Irrtum zu korrigieren, und er hatte eben wieder angefangen, als der Colonel die Hand hob und sagte: »Entschuldigen Sie die Unterbrechung, Vikar. Bitte fahren Sie fort.«
    Als der Vikar sich dann seiner Schlußfolgerung näherte, richtete er den Blick auf die oberen Kirchenfenster, durch die kurz ein heller Sonnenstrahl fiel und dann wieder verschwand. Maureens Blick folgte seinem, ihr Gesicht strahlte, ihre Lippen waren geöffnet, und auch die Zähne. Während der ganzen Messe hatte sie meinen Blick gemieden, und das tat sie auch jetzt, als sie den ihren von dem Buntglasfenster wieder nach unten richtete. Sie glaubt an das alles, dachte ich, ach, wenn ich es nur auch könnte. Ich wünschte mir auch, mein Vater wäre statt dessen hier, und meine Mutter würde zu Hause auf mich warten mit einem »guten, anständigen Essen, oder zumindest so gut, wie man es zwischen zwei Weihnachten bekommt«, wie sie immer so schön sagte. Der

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