Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now
drängen oder mich einmischen — oder mir die Mühe machen, war es das? Gegen Mittag ging ich auf meinem Weg zum Waschsalon zu ihr hinunter und drückte auf die Klingel. Ich wartete ziemlich lange und wollte, erleichtert, eben schon wieder gehen, als die Tür sich langsam öffnete und ich sie zum ersten Mal sah. Das ist noch immer meine deutlichste Erinnerung an sie.
Im Schatten des Eingangs wirkte sie anfangs einfach nur neugierig, doch als die Tür dann weiter aufging, hob sie die Hand zum Mund, wie um einen Aufschrei zu unterdrücken. Ihre schwarzen Haare waren in der Mitte gescheitelt und umrahmten ihr Gesicht wie eine Haube. Auch ihr Kleid war schwarz, mit einem weißen Kragen, der ihr bis unters Kinn reichte, und es hing lose an ihr, als wäre es ihr geschenkt worden und immer noch zu groß für sie. Im ersten Augenblick schien sie mich haßerfüllt anzuschauen, dann ließ sie die Hand sinken, und ich sah, daß ihre Lippen zitterten. Sie waren dick mit Lippenstift beschmiert, und ihr Gesicht war mit Puder bedeckt, und es war ein verängstigtes Kind, das da zu mir hochschaute und mich um Verzeihung bat. Die Sätze, die ich mir zurechtgelegt hatte, klangen wie dummes Geschwätz, und vermutlich nahm sie sie auch so auf.
»Mein Name ist Tom Ripple. Ich lebe in der obersten Wohnung. Ich kannte Ihren Mann ein wenig. Ich wollte nur sagen, wie leid mir das alles tut, und bitte zögern Sie nicht, wenn es je etwas geben sollte, irgend etwas, bei dem ich Ihnen helfen kann.«
Ich hatte meine Telefonnummer auf ein Stück Papier geschrieben,
und das hielt ich ihr jetzt hin. Sie preßte die Lippen zusammen und nickte, nahm das Papier aber nicht. Einige Sekunden lang musterte sie mein Gesicht, als versuchte sie, mich wiederzuerkennen. Dann schien die Angst in ihr zu versiegen, und übrig blieb eine angemalte Maske, blind und verzweifelt. Ich wollte mich schon zum Gehen wenden, als sie die Tür weiter aufmachte und zur Seite trat.
»Bitte«, sagte sie.
Das vordere Zimmer wirkte unbenutzt, als hätte man es hastig aufgeräumt und dann sehr lange Zeit nicht betreten. Es war, als wäre der Staub in alle Oberflächen hineingesickert, als wäre der ganze Raum unerreichbar für Licht oder Luft. Auf dem Fernseher stand eine Vase mit vertrockneten Stengeln, die früher einmal rote Rosen gewesen sein mochten, und auf einem Sideboard waren eine leere Karaffe und Gläser aufgereiht wie ein unwillkommenes Hochzeitsgeschenk. Das einzige Bild an der Wand zeigte entfernte, sonnenbeschienene, schneebedeckte Berge, aber auch das schien vom Staub getrübt, eine besudelte Vision der Erhabenheit. Sie war vorausgegangen und drehte sich am Durchgang, der zum Korridor führte, um.
»Mögen Sie Kaffee?« fragte sie, und ihre Stimme klang leise und gestelzt, als würde sie sich selbst aus einem Schulbuch vorlesen.
»Nein, vielen Dank«, sagte ich. »Ich bin wirklich nur gekommen, um Ihnen zu sagen ...«
»Dann vielleicht Tee?«
Ich schüttelte den Kopf, wußte nicht so recht, was sie von mir erwartete. Sie stand völlig bewegungslos da, die Hände vor dem Bauch gefaltet, das schwarze Kleid hing lose und schief an ihr, eine Spitze des weißen Kragens war aufgerollt, und ihr Gesicht war wieder das eines Kindes, das versucht, sich an seine Manieren zu erinnern. Wenn sie mich nur nicht so angestarrt hätte, dann hätte ich gehen können, da ich meine Pflicht bereits erfüllt hatte.
»Bitte«, sagte sie noch einmal, und ich folgte ihr in den Gang und dann in das Zimmer, das rechts abging. »Das Zimmer meines Mannes«, sagte sie leise und deutete zu der geschlossenen Tür am
Ende des Gangs, als arbeitete er dort drinnen und dürfte nicht gestört werden.
Das Zimmer, in das sie mich führte, war voller Farben, und als wir eintraten, kam die Sonne heraus und badete sie alle in Gold. Das Sofa an der gegenüberliegenden Wand war mit einer Patchworkdecke und einem halben Dutzend kleiner Kissen, jedes mit einem unterschiedlichen Muster aus Blumen und Blättern, bedeckt. Die beiden kleinen Sessel zu beiden Seiten des Sofas waren mit knospenden Zweigen bestreut, und die Sonne schien durch halb zugezogene Vorhänge mit Streifen in Silber- und Brauntönen, wie Bäume in einem Wald. Auf dem Boden lag ein dunkelroter und orangefarbener Perserteppich, der schimmerte wie unter Wasser. Das Zimmer loderte wie ein wildgewordener Garten. Es gab auch echte Blumen, weiße Azaleen auf dem Tisch und ein rotes Alpenveilchen auf dem Sims über dem Sofa, beide in voller
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