Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now
von seinem Schreibtisch auf, kommt zu mir gelaufen und schlägt mir so fest
ins Gesicht, wie er kann. Da ich mich in sein Leben eingemischt habe, könnte ich vielleicht auf den Gedanken kommen, es geschehe mir recht. Vielleicht schaue ich aber auch eines Tages nur zu ihm hinüber, und er fängt an zu heulen, die Tränen laufen ihm übers Gesicht, die Augen sind weit aufgerissen vor Verzweiflung, und er dreht einfach völlig durch. Jede solche Abweichung in seinem Verhalten müßte ich natürlich Plaskett melden, der darauf sagen würde: »Er muß natürlich gehen.« Und ich würde erwidern: »Einen Augenblick mal, sollten wir nicht überlegen ... ?« Natürlich würde ich das verdammt noch mal nicht. Ich würde nicken und erwidern: »Jawohl, Mr. Plaskett.« Danach würde ich mehrere Blätter meines Schreibblocks mit meinen Meinungen über Plaskett füllen und zwischendurch ein Memo an die Personalabteilung schicken, in dem ich um Hipkins Entlassung bitte. Wenn ich ihm dann später seine Papiere geben muß, würde ich mich entschuldigen, und er würde sagen: »Ist schon in Ordnung, Mr. Ripple.« Und ich könnte meiner Frau nichts von Hipkin erzählen, weil sie mir sagen würde, daß es so viele andere wie ihn gibt, die Aufmerksamkeit und Hilfe und Mitgefühl und Liebe brauchen, daß sie »viel zu selten« in der Lage ist, sie ihnen auch zu geben. Und ich kann es nie.
KAPITEL VIER
Z eit ist vergangen. Dank der Kinder ist unser Verhältnis zu den Hambles und den Webbs inzwischen enger geworden. Virginia orientierte sich in die eine Richtung und Adrian in die andere. Ich vermute, meine Tochter brauchte einfach ein Ventil für ihr aufkeimendes soziales Gewissen. Eines Abends beim Essen sprachen wir ... lauschten wir einem Vortrag meiner Frau über die Leiden alter Menschen, die mit einer immer kleiner werdenden Rente auskommen müssen. Im Fernsehen gab es einen Film, den ich sehen wollte, und je mehr meine Frau zu sagen hat, desto langsamer ißt sie. »Zum Beispiel die Hambles«, sagte ich, um das Gespräch wieder von diesen immer schwindelerregenderen Höhen herunterzubringen, wo die Luft so dünn ist, daß sie ganz aufhört zu essen.
In diesem Augenblick meldete sich Virginia zu Wort. Sie mußte sich mit ihrer Mutter gut stellen, die sie am Tag zuvor getadelt hatte, weil sie nicht zu schätzen wisse, was sie habe, in diesem Fall drei solide Mahlzeiten am Tag und ein Dach über dem Kopf. Wir hatten uns eine Sendung über Obdachlose angeschaut, und fünf Minuten vor dem Ende hatte sie (Virginia) mit meiner Zustimmung (einem kaum merklichen Kopfnicken) — meine Frau war eben aus dem Zimmer und nahm am Telefon bei irgendeinem Thema kein Blatt vor den Mund — auf einen anderen Sender umgeschaltet mit der Bemerkung (die präzise meinen Gedanken entsprach): »Okay, wir haben’s verstanden.« In diesem Augenblick kam meine Frau zurück, der Fernseher wurde ausgeschaltet, und die Strafpredigt begann. Ich saß nur da, in Gedanken vertieft, während Virginia mit ihren Schnürsenkeln spielte und irgendwann anfing, die Nase
hochzuziehen, was zu einer Wiederholung des Tadels führte, sie wisse nicht zu schätzen ... und so weiter. Die gedanklichen Tiefen, die ich zu dem Zeitpunkt erreicht hatte, ergaben, daß ich die Autorität meiner Frau über meine Kinder nie untergraben sollte, weil ich nichts dagegenzusetzen habe, da ich ja lieber Kojak sehe, als mir die Obdachlosen unter die Nase reiben zu lassen. Mit diesem Gedanken im Kopf und in der Hoffnung, das Thema zu wechseln, fragte ich: »Worum ging’s denn eigentlich?«
»Eine meiner Familien ist mal wieder auf der Straße.«
»Denen hast du’s aber gegeben.«
»Das war eben der Kollege, der sie übernommen hat. Frage mich, ob der dem Problem wirklich gewachsen ist.«
»Oh, das tut mir leid.«
»Das hat er auch gesagt.«
Wie auch immer, Virginia war angemessen getadelt (die Dinge in ihrem Leben, die sie gedankenlos einfach nur so aus Spaß tun kann, sehe ich mit Besorgnis täglicher immer weniger werden — kein Wunder, daß sie Gerstenkörner kriegt –, aber der Gedanke verkehrt sich sehr schnell ins Gegenteil, wenn ich mir überlege, welche dieser Dinge auch mit den besten Salben nicht mehr zu behandeln sind) und mußte jetzt ihrer Mutter beweisen, daß sie ein warmes und schlagendes Herz hatte.
Früher suchten wir gemeinsam danach, ich mit ihr, meine Hand über der ihren, ihre über der meinen. Ich kann das jetzt nicht mehr tun, obwohl ich es sehr gern möchte.
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