Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now
trinken und essen wir das und wärmen uns auf, und dann fahren wir mit einem Taxi nach Hause. Ist das okay für Sie?«
Sie drehte mir das Gesicht zu, ohne es von den Händen zu nehmen.
Ihre Stimme klang sachlich, höflich, einfach nur neugierig. Wir hätten uns auch bei irgendeinem gesellschaftlichen Anlaß unterhalten können. »Sie sind nicht mein Vater, oder? Sie sind überhaupt nichts.«
»Nun ja, vielleicht gibt es ein paar, einen oder zwei, die nicht ganz so weit gehen würden.«
Sie nickte. »Ich sehe Sie fast jeden Tag vorbeigehen. Sie schauen immer zu meinem Fenster hoch, können mich aber nicht sehen, oder? Ich kann Sie sehen.«
Sie lächelte, als wollte sie mich trösten, aber kaum erwiderte ich das Lächeln, zog sie die Nase hoch und wischte sich mit dem
Daumen über den Mund. Ich schaute auf ihre Hände hinunter, die jetzt, ausgebreitet wie zur Inspektion, auf dem Tisch lagen.
»Sie denken eben, daß ich aufhören sollte, meine Nägel zu kauen. Das denken alle Väter.«
Ihre Stimme war jetzt barsch und gehässig. Es war nicht die Stimme, die damals so wunderschön gesungen hatte. Ich schüttelte den Kopf, auch wenn ihre Fingerkuppen roh waren und ich hier und dort kleine Schorfe erkennen konnte, wo sie sich blutig gebissen hatte, und ich genau das dachte. Ich wollte, daß ihre Stimme sich wieder änderte. Auch wenn das dumm klingen mag, ich wollte nur, daß sie aufhörte, sich so hängenzulassen. Daß sie ganz einfach zu einer munteren, glücklichen jungen Frau wurde, die jeden Sonntag wunderschön in der Kirche sang. Ich trank einen Schluck Kakao, biß von einem Keks ab und sagte: »Ich habe Sie unlängst am Sonntag in der Kirche gehört. Sie haben eine bezaubernde Stimme.«
Sie runzelte die Stirn, als hätte sie keine Ahnung, wovon ich eigentlich redete, und wandte sich dann wieder dem Meer zu. Ich wartete auf ihre Antwort.
»Anstarren ist unhöflich«, sagte sie.
»Entschuldigung. Ich ...«
Sie zuckte die Achseln. »Sie können meinen Kakao haben, wenn Sie wollen. Ekelhaftes Zeug. Das einzige, was man dort bekommt.«
»Danke. Ich war einfach nur neugierig. Ich meine, ich dachte mir, wer so schön singt, sollte eigentlich professionelle Sängerin werden.«
»Dort drinnen darf ich es nicht. Es stört die anderen.« Sie knirschte mit den Zähnen, wandte sich mir wieder zu und riß die Augen auf. »Also, was wollen Sie, Mr. Schnüffler? Jeden Tag vorbeigehen. Mr. Polizist. Tranquilizer. So nennen sie sie. Das Zeug, das sie in meinen Kakao tun. Damit ich nicht singe. Soll ich jetzt singen?«
Ich spürte, daß die Kellnerin hinter mir lauerte, und verlangte die Rechnung. Auf der Theke stand ein Telefon, und ich bat sie um die Nummer des Taxirufs.
»Ich mach das für sie«, sagte sie. »Kein Problem. Dauert normalerweise zehn Minuten.« Sie schaute das Mädchen kurz an, warf mir dann einen wissenden Blick zu und hätte sich beinahe an die Stirn getippt.
Als ich mich wieder umdrehte, starrte das Mädchen mich an. Die schlichte Lieblichkeit war in ihr Gesicht zurückgekehrt. Es war, als könnte es nie wiedererkannt werden, wäre nutzlos, ohne Hoffnung oder Hilfe.
Als sie nun sprach, war ihre Stimme sanft, fast ein Flüstern. »Ich würde sehr gern für Sie singen. Wir könnten zum Meer hinuntergehen. Der Wind trägt es davon. Es steigt ins Universum. Ich gebe es nur zurück. Sie können das nicht verstehen.«
Ich schaute ihr so freimütig in die Augen, wie ich konnte. Ich hatte das Gefühl, wenn ich es nur intensiv genug wollte, dann könnte ich sie so halten, genau so, für immer. Aber ihre Augen schlossen sich, und sie fing an, in sich hineinzumurmeln oder eher zu summen, als würde sie sich selbst in den Schlaf singen. Ihr Gesicht war entspannt. Auf dem Tisch trommelten ihre rohen, verschorften Fingerkuppen einen Rhythmus. Die Kellnerin kam mit meinem Wechselgeld und um mir zu sagen, daß das Taxi gleich da sei.
»Ist alles in Ordnung?« fragte sie.
Ich nickte. »Danke. Das ist dann alles. Vielen Dank.«
»Solange nur alles in Ordnung ist.«
Dann saßen wir einfach nur da. Ihre Lider waren nicht ganz geschlossen, und dahinter flackerte es. Sie murmelte weiter. Schließlich kamen ihre Finger zur Ruhe, und sie ballte die Fäuste. Sie drehte die Innenseiten nach oben, und nun sah ich zum ersten Mal die Narben an ihren Handgelenken wie winzige Peitschenspuren. Ich zählte sie. Fünf auf jeder Seite, parallel und fast symmetrisch.
Ich hob den Kopf, und sie starrte mich an. »Sehen Sie,
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