Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now
daß die komplexe Schönheit dieser anderen Welt so ziemlich unerschöpflich ist und daß man ewig darin leben könnte — sogar jemand wie ich, der keine Ahnung von Musik hat. Dauernd darin zu leben könnte einen allerdings verrückt machen. Dies spätnachts drei Wochen danach. Zu der Zeit fiel mir nichts Besseres ein als: »Ich habe gemerkt,
daß sie die CD mochte. Anscheinend habe ich genau das Richtige getroffen.«
»Haben Sie.«
Dann fragte ich: »Hatte sie schon mal Gelegenheit, mit einem Pianisten zu singen?«
Mit einem lauten Seufzen hob sie beide Hände vom Lenkrad. »O ja, mein Gott. Zweimal. Nach den ersten paar Zeilen wollte sie einfach nicht mehr weitermachen. Hat einfach nur den Kopf geschüttelt und den Raum verlassen. Sie waren eigentlich recht gut, aber sie hatte die besten gehört, und deshalb ...« Sie lachte. »Ich habe mir schon manchmal gedacht, ich schreibe an Graham Johnson oder Roger Vignoles oder sonst einen von denen und frage sie, ob sie vielleicht einmal vorbeikommen und für meine Tochter spielen würden ... Ich bin mir sicher, das sind sehr nette Leute, aber sie können sich die Reaktion ja vorstellen. Vielleicht zeigen sie den Brief herum ... Und dann das Gelächter ...«
Danach schwiegen wir ziemlich lange. Meine Gedanken wanderten von Julia zu den anderen Frauen dort. Und ich ertappte mich bei der Frage, ob es besser wäre, wenn sie nie geboren worden wären. Heutzutage kann man sich entscheiden, ob solche Kinder geboren werden sollen oder nicht. Eine täglich getroffene Entscheidung. Die entstellten Körper und nutzlosen Hirne. Menschen, die weniger wert sind als Sie oder ich? Menschen, die nie irgend jemandem ein Leid oder eine Verletzung zufügen könnten. Gibt es ein besseres Maß des Wertes, der Tugend als dies ... ?
Die freie Landschaft wich erst vorstädtischen Bungalows und dann dichtem Verkehr, Bürogebäuden und Lagerhäusern. »Seligkeit« hatte keinen Widerhall mehr. Ich nahm meine Begleiterin wieder wahr, ihre Hände fest am Lenkrad. Es gab noch viel mehr, was ich fragen wollte. Vor allem über Julias Vater.
»Verzeihen Sie mir, aber gibt es Brüder und Schwestern? Einen Vater?«
»Nichts davon. Ihr Vater verließ uns. Starb später bei einem Autounfall.«
»Ist das ... ?«
»Nein, ist es nicht. Sie weiß noch gar nicht, daß er tot ist. Die
Psychiater sagen, es würde nichts bringen. Oder es wäre zu riskant. Sie glaubt, er ist immer noch irgendwo und könnte jeden Augenblick durch die Tür kommen. Und genau darauf freut sie sich. Sie bildet sich ein, Briefe zu bekommen. Einmal sagte sie mir, er sei aus unvermeidlichen Gründen aufgehalten worden.«
»Verstehe. War es ihre ... war das der Grund, warum er Sie verließ?«
»O nein. Na ja, nicht wirklich. Ihr Zustand war bereits ziemlich hoffnungslos. Ich war es, die er nicht mehr wollte. Kann es ihm eigentlich nicht verdenken. Ich konnte nur noch für sie leben. Ich habe mich sehr bemüht, aber ...«
»Verstehe«, sagte ich noch einmal.
Aber ich tat es nicht. Wir hielten eben vor meinem Haus. Ich dankte ihr. Ich sagte nicht, daß ich Julia gern noch einmal besuchen würde. Ich weiß nicht, ob sie wollte, daß ich das sagte. Ich weiß nicht, ob ich sie wiedersehen wollte. Ich weiß es noch immer nicht. Um meinetwillen. Ich will sie in Erinnerung behalten, wie sie in dem Augenblick war, als sie »Seligkeit« sang. Um ihretwillen? Ihrer Mutter zuliebe? Ich habe noch genügend Zeit, darüber nachzudenken. Sie hat mich nicht gefragt, wird es auch nicht tun, um mir die Peinlichkeit zu ersparen — oder weil sie es gar nicht will? Es ist jetzt sehr spät nachts. Wenn nur meine Gedanken sich ordnen würden. Wenn ich nur einschlafen könnte.
Als ich mich durch das heruntergekurbelte Fenster von ihr verabschiedete, berührte sie ganz leicht meinen Arm und sagte mit dem Anflug eines Lächelns: »Wahrscheinlich halten Sie mich für völlig verrückt, aber manchmal, wenn ich ein Klopfen an der Tür höre, denke ich, wenn ich jetzt aufmache, steht Graham Johnson draußen und sagt, er wollte nur mal kurz vorbeischauen, um mit Julia ein paar Lieder durchzugehen.«
Dann fuhr sie mit der Hand vor dem Mund los, so daß ich nicht wußte, ob das Geräusch, das sie machte, ein Kichern oder ein Schluchzen war. Ich war froh, daß ich nicht darauf reagieren mußte.
KAPITEL DREIZEHN
E ndlich ist Mrs. Hirst zurückgekehrt. Sie hat eine große Menge Fotos mitgebracht, die sie mir in Etappen zeigen will, wie sie sagt.
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