Ein unbeschreibliches Gefuehl
anderen zu überschreiten. Die Haltung des »Ich weiß, was für dich gut ist« wäre eben grundverkehrt. Positiv formuliert, geht es darum, dass Wertschätzung und Geborgenheit in einer Liebe die Grundlage dafür bilden, dass jeder seine Begabungen weiterentwickeln kann. Ebenso wichtig ist die ehrliche Resonanz des jeweils anderen, seine Rückmeldung, die im Einzelfall als Anstoß oder Korrektiv wirken kann – je nachdem.
Doch wohin entwickelt man sich weiter? Nietzsches »Übermensch« kann ja wohl nicht das Ziel sein. Können wir überhaupt noch einem seit je festgelegten Ideal unserer selbst folgen, wie es einst Platon lehrte? Oder ist das heute unmöglich geworden? Und was hat die Liebe damit zu tun? Im 20. Jahrhundert werden die Karten, was diese Fragen betrifft, noch einmal neu gemischt.
Wer liebt, sieht mehr
E r war ein Liebhaber schöner Frauen, aber geheiratet hat er nur dreimal.« Die Rede ist von dem Philosophen und Soziologen Max Scheler. Die Ehewirren des 1874 Geborenen, von denen der eine Generation jüngere Philosoph Hans-Georg Gadamer hier augenzwinkernd berichtet, haben tatsächlich Wellen geschlagen, und zwar nicht nur in akademischen Kreisen, sondern auch in der zeitgenössischen Presse. Aber nicht deshalb, sondern weil Max Scheler als Philosoph Wichtiges über die Liebe zu sagen hat, gehört er in dieses Buch.
Um ihn zu verstehen, müssen wir uns die Ausgangslage zum Ende des 19. Jahrhunderts vergegenwärtigen. Da waren in der Philosophie immer noch viele kluge Köpfe damit beschäftigt zu fragen, was wir denn, nach Kants »alles zermalmendem« Eingriff, überhaupt von der Welt und uns selbst erkennen können. Gleichzeitig entwickelten die erstarkenden Naturwissenschaften ihre eigenen Methoden, sich die Welt anzueignen – was die Geisteswissenschaften, unter ihnen auch die Philosophie, in ziemliche Begründungsnöte brachte.
Was können wir noch glauben und hoffen, welchen Werten können wir folgen, und wie sind wir, als Menschen, überhaupt gestrickt? So lauteten die großen Fragen, als etwa zeitgleich zwei bedeutende Männer auf den Plan traten: Sigmund Freud und Edmund Husserl. Freuds Disziplin, die Psychologie, war soeben dabei, sich von ihrem Mutterfach, der Philosophie, zu emanzipieren. Freud selbst hatte als Arzt und somit Naturwissenschaftler begonnen, er bezog jedoch in die von ihm begründete Psychoanalyse das gesamte gesellschaftliche und kulturelle Leben mit ein. Edmund Husserl wiederum war Philosoph und Mathematiker. Und einer seiner wichtigsten Nachfolger war eben besagter Max Scheler, der in seinem Schaffen philosophische und soziologische Fragestellungen verband. Mit der Psychologie und der Soziologie ist nun auch das neue Feld abgesteckt: Diese beiden Wissenschaften flankierten fortan die Philosophie viel stärker als die vormals so wichtige Theologie. Das hatte auch Auswirkungen auf das Nachdenken über die Liebe: Die kann heute, streng genommen, nicht mehr betrachtet werden, ohne Psychologie und Gesellschaftswissenschaften in den Blick zu nehmen.
Um Scheler und sein Liebeskonzept zu verstehen, müssen wir zunächst seinen Lehrer Husserl kennenlernen. Der sagte: Die Welt »an sich« können wir nicht erkennen, darin hatte Kant recht. Aber wir nehmen Erscheinungen auf der Bühne unseres Bewusstseins wahr. Auf diese Phänomene (griechisch für: »Erscheinung«) müssen wir uns beschränken, wenn wir über die Welt und uns selbst etwas erfahren wollen. Phänomenologie heißt denn auch die einflussreiche philosophische Richtung, die Husserl begründet hat. Mit Phänomen meint er allerdings nicht Eins-zu-eins-Abbildungen der Sinneserfahrungen in unserem Bewusstsein, sondern die »idealen Wesenheiten« und »Wesenssachverhalte«, die dahinter aufscheinen. Wenn man zum Beispiel einen grünen Bleistift sieht, so meint »Phänomen« nicht, dass der grüne Bleistift im Bewusstsein abgebildet wird (wie das funktioniert, lässt sich ja physiologisch weitgehend erklären), sondern dass im Bewusstsein das Phänomen »grün« erscheint. Und dieses »Grün«-Phänomen existiert sogar unabhängig davon, ob jemand es soeben wahrnimmt. Es ist mehr wie ein Prinzip.
Husserl beobachtete außerdem: Unser Bewusstsein ist immer Bewusstsein »von etwas«, es kann keine Phänomene auftreten lassen, ohne ihnen einen Sinn beizulegen. Diese Haltung nannte Husserl »Intentionalität«. Sie entscheidet darüber, was wir wahrnehmen. Eine weibliche Gestalt etwa, die wir zunächst als Schaufensterpuppe
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