Ein unbeschreibliches Gefuehl
wahrgenommen haben, entpuppt sich dann als lebendige Frau – und sofort geben wir dem Wahrgenommenen eine andere Bedeutung. Die Vexierbilder, in denen man einmal eine Vase und ein andermal zwei einander zugewandte Profile erkennt, sind ein gutes Beispiel dafür, wie Intentionalität funktioniert.
Die Sache mit der Frau und der Schaufensterpuppe ist dem Begründer der Phänomenologie übrigens selbst passiert. Gadamer berichtet, Husserl habe einmal das Berliner Panoptikum besucht, ein Wachsfigurenkabinett. Dort hatte er den Eindruck, dass ihm eine Dame sehr deutlich zuwinke. Husserl reagierte verlegen und errötete, um gleich darauf erleichtert zu bemerken: »Es ist eine Puppe …«
Die Phänomenologie bezieht sich nun nicht nur auf Wesenheiten und Wesenssachverhalte (»das Grün«), sondern auch auf Werte. Damit ist das Feld der Ethik erreicht, jenes philosophische Teilgebiet, wo nach den Begründungen für menschliches Handeln gefragt wird. Hier hat besonders Max Scheler die Gedanken Husserls weiterentwickelt und dabei die Liebe in den Mittelpunkt gestellt.
Scheler lehrte ursprünglich als Privatdozent an der Universität Jena. Als seine erste Frau Amélie jedoch wegen einer Affäre ihres Mannes mit der Ehefrau des Verlegers Eugen Diederichs einen Skandal anzettelte, wechselte er 1906 nach München und lernte dort die phänomenologische Denkrichtung kennen. 1909 kam es zu einem erneuten Skandal, weil Amélie, von der er sich mittlerweile getrennt hatte, ihm die Beziehung zu einer jüngeren Frau verübelte. Zu ihrer Verärgerung trug sicher auch bei, dass Scheler für die neue Beziehung offensichtlich Geld zu haben schien, während er ihr gegenüber vorgab, die Alimente für seinen kleinen Sohn nicht pünktlich zahlen zu können.
Amélie gelang es, die Universitätsverwaltung und die »Münchener Post« für die Sache zu interessieren. 1910 strengte Scheler gegen das Blatt eine Beleidigungsklage an. Der nun folgende Prozess um die »Würde eines Hochschullehrers« endete mit dem Freispruch des betreffenden Journalisten. Scheler verlor seine Münchner Privatdozentur und lebte in den folgenden Jahren als freier Schriftsteller und Dozent. 1912 wurde er geschieden und heiratete Märit Furtwängler, die Schwester Wilhelm Furtwänglers. Doch auch diese Ehe wurde, nach elf Jahren, geschieden. 1924 heiratete Scheler ein drittes Mal. 1928 wurde er als Professor an die Universität Frankfurt am Main berufen. Im Mai desselben Jahres starb er. Sieben Monate später brachte seine Witwe Maria einen gemeinsamen Sohn zur Welt und nannte ihn nach dem Vater: Max.
Im Jahr 1913, zum Beginn seiner Ehe mit Märit, brachte Scheler das Buch heraus, in dem er sich mit der Liebe befasste: »Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Haß«. 1923, im Jahr der Scheidung von Märit, erschien das Buch überarbeitet erneut. Der Titel lautete nun: »Wesen und Formen der Sympathie«. In dem Buch findet sich eine Definition der Liebe, die zunächst etwas sperrig klingt: »Liebe ist die Bewegung, in der jeder konkret individuelle Gegenstand, der Werte trägt, zu den für ihn oder nach seiner idealen Bestimmung möglichsten höchsten Werten gelangt.« Gemeint ist: In der Liebe wird das Geliebte als Optimum seiner selbst gesehen, in der allerbesten Verfassung sozusagen, auf dem Gipfel seiner Möglichkeiten.
Geliebt werden können aber, nach dieser Aussage, nur »Gegenstände, die Werte tragen«. Was könnte das sein? Ein Gemälde zum Beispiel trägt den Wert »Schönheit«. Wer das Bild betrachtet, der erkennt darin diesen Wert. Nun sind aber nicht nur »Gegenstände« im Wortsinn die Träger von Werten. Mit Gegenstand meint Scheler vielmehr alles das, was uns als »Liebesobjekt« vor die Nase gerät. Und das sind natürlich vor allem Menschen, Personen. Für Scheler trägt die Person sogar einen besonderen Wert – einen, der keinem leblosen Ding zukommt. Dieser Personwert ist die unverwechselbare Individualität des jeweiligen Menschen, der uns da gegenübersteht. In jeder Person verbinden sich deren spezielle Eigenschaften und Fähigkeiten zu einer einmaligen Mischung nach dem Motto: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. »Wo immer uns Individuen gegeben sind, da ist uns ein Letztes gegeben, das in keiner Weise aus Merkmalen, Eigenschaften, Tätigkeiten zusammengesetzt werden kann.« Ebendieses »Letzte« macht den Personwert des betreffenden Menschen aus. Es zu erkennen, das bedeutet, Menschen
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