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Ein unbeschreibliches Gefuehl

Ein unbeschreibliches Gefuehl

Titel: Ein unbeschreibliches Gefuehl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Schlueter
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»sittlich zu lieben« (»sittlich« bedeutet nicht »züchtig und hochgeschlossen«, sondern »ethisch-moralisch«).
    Scheler argumentiert sehr praktisch, indem er sagt: Wer begründen soll, warum er jemanden liebt, wird vielleicht dessen Eigenschaften aufzählen können. Aber er wird auch erkennen, dass er denjenigen sogar dann lieben würde, wenn der diese oder jene Eigenschaft nicht besäße, weil »die Summe der Werte … bei weitem nicht unsere Liebe zur Person zu decken vermag. Da bleibt immer ein ›unbegründbares‹ Plus.« Diesen letzten Satz sollte man sich mehrfach auf der Zunge zergehen lassen. Der Mensch, den wir lieben, so sagt Scheler, ist für uns mehr als die Summe seiner Eigenschaften. Und ebendieses »Mehr«, dieses Einzigartige lieben wir an ihm. Wir lieben es sogar dann, wenn es sich aktuell überhaupt nicht zeigt, weil – siehe oben – die liebende Betrachtung das »Mehr« immer mitsieht. Liebe, so hatte Scheler ja eingangs gesagt, ist eine Bewegung, die den geliebten Gegenstand zu dessen höchster Bestimmung trägt.
    Wie aber erkennen wir dieses »Mehr«, wie können wir es wahrnehmen? Wie schaffen wir es, in einem Menschen mehr als nur die Ansammlung vieler Eigenschaften zu sehen? Hier kommt wieder die Phänomenologie ins Spiel. Die beschreibt ja das Erkennen als Aufscheinen von Phänomenen im Bewusstsein. Angewendet auf die Liebe, bedeutet das: Indem wir den geliebten Menschen wahrnehmen, erscheint sein Personwert, jenes »Mehr«, als Phänomen auf der Bühne unseres Bewusstseins. Was aber müssen wir tun, damit das geschieht? Eigentlich nicht viel. Wir müssen nur Platz machen auf dieser Bühne. Wir müssen offen sein für das, was sich zeigt, und darauf verzichten, es in die Schubladen des Vorwissens und des Vorurteils zu packen. »Phänomenologische Reduktion« hat Max Schelers Vorbild Edmund Husserl diese Haltung genannt.
    Der vorurteilsfreie Blick auf die geliebte Person, der sie in ihrer Unverwechselbarkeit und mitsamt ihren besten Möglichkeiten wahrnimmt: Man kann diese Haltung, die Scheler da beschreibt, als emotionales Schauen bezeichnen. Dann fällt es leichter, sie von den Höhen der Philosophie in die Niederungen des Alltags zu übertragen. Vorurteilsfrei schauen, mit Liebe und Offenheit für das Beste, das sich zeigen kann – wer einem anderen Menschen so begegnet, der eröffnet ihm einen Raum der Freiheit und zugleich Geborgenheit, in dem der andere so sein kann, wie er ist, um seine besten Möglichkeiten zu entfalten.
    Alles schön und gut, werden kritische Geister jetzt vermutlich einwenden. Aber an Max Schelers eigenem Privatleben sieht man doch, dass solch eine Haltung nicht lange funktionieren kann. Wohl wahr! Was hier beschrieben wird, ist ein Ideal. Es ist die von allen Schlacken gereinigte Haltung in der Liebe. Aber woran sollen wir uns orientieren, wenn nicht an einem Ideal? Es gibt uns die Richtung vor. Und es kann ein Korrektiv für uns sein, wenn wir uns mal wieder allzu weit vom Weg entfernen. Ein solches Ideal beschrieben zu bekommen, das ist schon mal etwas. Um es nicht aus den Augen zu verlieren, können wir uns auch überlegen, wie wir selbst in der Liebe gern behandelt werden würden. Dass jemand das »Mehr« in uns wahrnimmt, vielleicht auch in den Momenten, in denen wir selbst überhaupt keinen Sinn dafür haben, das würde uns sicher glücklich machen.

Der flügelschlagende Eros
    W ie können wir als Liebende den geliebten Menschen angemessen wahrnehmen? Wie gehen wir als Liebende gut miteinander um, und welche Haltung hilft uns dabei? Um diese Frage war es bei Max Scheler gegangen. In den Antworten, die er fand, rückte das geliebte Gegenüber stärker in den Blick als bei den älteren Philosophen wie etwa Rousseau oder Kierkegaard. Die hatten ja doch meist den Liebenden mit seinem zeitlichen und ewigen Glück und Leid, mit seinem Ringen um die »richtige Liebe« im Mittelpunkt gesehen.
    Noch einen Schritt weiter gingen nun die Denker, die weder beim Liebenden noch beim Geliebten ansetzten, sondern bei dem Zwischenraum, der zwischen beiden besteht. Dieser Zwischenraum, so sagen sie, ist der eigentliche Ort, an dem eine Beziehung, auch eine Liebesbeziehung, stattfindet. »Das dialogische Prinzip« heißt ein Sammelband mit Texten von Martin Buber, dem 1878 geborenen Hauptdenker der sogenannten Dialogphilosophie. Bubers Schlüsselwerk von 1923 lautet »Ich und Du« – die von ihm mitbegründete Denkrichtung wird folglich auch

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