Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
Nase zugeschlagen.»
Frustriert fuhr sich Seth durchs Haar. Auf dem Schiff wollte man jetzt die Gangway einholen, und die Besatzung rief ihm wütend zu, er solle endlich an Bord kommen. Er konnte es einfach nicht glauben. Was war passiert?
«Wartet», schnauzte er die Besatzung an, bevor er sich wieder an den Kutscher wandte. «Hat sie dir einen Brief mitgegeben? Irgendeine Erklärung?»
Der Mann schüttelte unbekümmert den Kopf. «Überhaupt nichts, Herr.»
Die Antwort warf ihn fast zu Boden. Beatrice hatte sich nicht die Mühe gemacht zu kommen.
«Wir müssen jetzt ablegen», schrien die Matrosen, und Seth antwortete mit einer wütenden Geste. Dann holte er einen Notizblock aus der Tasche, riss ein Blatt heraus und kritzelte ein paar hastige Zeilen. «Fahr zurück und gib ihr das», sagte er.
Der Kutscher nahm das Papier entgegen. Seth sah ein, dass er jetzt an Bord gehen musste, also betrat er mit einem letzten Blick auf den Göteborger Hafen die Gangway.
Die Segel wurden gehisst, und der Rauch stieg in dicken Wolken aus dem Schornstein. Das Nebelhorn ertönte, und die Leute am Kai winkten und jubelten, als die Romeo den Anker lichtete und Kurs auf Hull in England nahm.
Beatrice wartete den ganzen Tag auf Seths Kutsche, die jedoch nicht kam. Während die Zeit verstrich, versuchte sie mit purer Willenskraft den Wagen herbeizuzwingen, den er ihr zu schicken versprochen hatte. Einmal hörte sie, wie unten die Haustür geöffnet wurde, und in ihrer Brust zog sich alles zusammen. Sie lief hinunter und stieß auf Edvard, der sie fragend anlächelte.
«War das für mich?», fragte sie gespannt.
Edvard schüttelte langsam den Kopf. «Nein, Beatrice, warum sollte es für dich gewesen sein?»
Sie sah ihm in die freundlichen Augen und sackte in sich zusammen. Edvard hatte recht. Warum hätte es für sie sein sollen? Warum sollte jemand nach ihr fragen?
Edvard sah Beatrice nach, wie sie sich über die Treppe zurück in ihr Zimmer schleppte. Diese dumme kleine Idiotin. Er holte Hammerstaals Zettel aus der Tasche, den er dem Kutscher mit ein paar zusätzlichen Münzen abgekauft hatte, und las die kurzen Zeilen durch.
Schreib mir. Du musst mir sagen, wenn dir etwas passiert, was ich wissen sollte.
Schreib mir, ich bitte dich.
Ich bin bald wieder zu Hause.
S
Edvard betrachtete die pathetischen Zeilen, das kühn geschwungene S der Unterschrift und die Adresse in New York, bevor er den Zettel zusammenknüllte. Nichts da, auf diese Aufforderung würde Beatrice niemals reagieren.
Er fragte sich, was zum Teufel die beiden eigentlich miteinander hatten und was der Graf davon halten würde, dass seine Verlobte mit dem Norweger Briefe wechselte. Doch im Moment hatte er keine Lust, sich weiter darum zu kümmern. Er war zufrieden, diesem norwegischen Aas einen Knüppel zwischen die Beine werfen zu können. Und wenn Beatrice in der Gegend herumvögelte, geschah das Rosenschöld nur recht. Edvard machte sich auf die Suche nach dem Dienstmädchen. Er hatte einen Auftrag für sie.
Nachdem Beatrice das Nebelhorn gehört hatte, das die Abfahrt des Schiffes signalisierte, blieb sie eine ganze Weile mit leerem Blick auf ihrem Bett sitzen. Wie war das nur möglich? Den ganzen Tag hatte sie gewartet und die Hoffnung einfach nicht aufgeben wollen. Erst gegen Abend musste sie den Tatsachen ins Auge sehen. Seth hatte sie ohne ein Wort verlassen. Es war nur ein Spiel gewesen, eine Scharade. Er wollte sie nicht mehr, und er hatte dafür gesorgt, dass sie das auch verstand. Wenn er sich an ihr hatte rächen wollen, weil sie ihn im Januar abgewiesen hatte, dann war ihm das ausgezeichnet gelungen. Sie war gebrochen. Langsam zog sie ihre Straßenkleidung aus und ging Johan an Sofias Krankenbett ablösen.
[zur Inhaltsübersicht]
26
Eines wolkigen Herbstnachmittags klopfte Doktor Friedrich Eberhardt, der seine Empörung kaum im Zaum halten konnte, an die Tür des zweistöckigen Hauses in der Sillgatan in Göteborg. Dann sah er sich um und warf einen ärgerlichen Blick auf die beiden Männer, die ihn vom Hauptbahnhof hergebracht hatten. Bringen war wohl kaum der richtige Ausdruck, sie hatten ihn eher hergeschleift. Ein letztes Mal überlegte er, ob er die Gelegenheit ergreifen und einfach weglaufen sollte. Doch während der gesamten Reise nach Schweden waren all seine hilflosen Fluchtversuche samt und sonders misslungen, und nun hatte Doktor Eberhardt es satt, sich ständig von diesen … verdammten Schweinehunden beuteln zu lassen. Sie
Weitere Kostenlose Bücher