Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
festgestellt hatte.
Vor dem Fenster tobte ein Herbststurm, und die Scheiben klirrten. Zärtlich strich Johan Sofia über die Stirn.
Die strengen Auflagen des Arztes – Bettruhe, salzfreie Kost sowie ein striktes Verbot weiterer Aderlasse – hatten zunächst bewirkt, dass sie etwas munterer wurde, und alle hatten Hoffnung geschöpft. Doch obwohl der Arzt sein Handwerk offenbar verstand und obwohl es Sofia zunächst besser zu gehen schien, war es offensichtlich, dass sie nicht genügend Kraft für eine Entbindung haben würde, selbst wenn sie ihre Krankheit überleben sollte.
Johan schloss die Augen und kämpfte gegen seine Tränen. Er wollte die Tatsachen nicht akzeptieren, wollte nicht hören, dass er nach weniger als einem halben Jahr Ehe seine Frau an eine Krankheit verlieren sollte, die so viele junge Frauen das Leben kostete.
Er lehnte sich zurück und erinnerte sich daran, wie er Sofia vor einem knappen Jahr zum ersten Mal gesehen hatte. Ihre Schönheit und ihr sanftes Wesen hatten ihn verzaubert, und er hatte sofort gewusst, dass sie die perfekte Frau für ihn sein würde. Johan rieb sich die Augen. Ohne sie wollte er nicht mehr leben. Sofia war sein ruhiger Hafen, sie war seine Zuflucht vor seiner dominanten Familie und der lauten Welt.
Es klopfte leise, und Beatrice sah zur Tür herein, blass, aber gefasst, wie immer.
Gott sei gedankt für Beatrice, dachte er und trocknete sich hastig die Tränen ab. Ohne sie würde er völlig wahnsinnig werden.
«Soll ich dich ablösen?», fragte sie leise. Sie sah aus, als könnte sie jeden Moment zusammenbrechen.
«Sie schläft», antwortete Johan freundlich. «Geh und leg dich eine Weile hin, dann kann ich dich später wecken. Vielleicht kannst du ihr dann etwas vorlesen?»
Beatrice nahm das Angebot an und ging.
«Johan?» Sofia hatte die Augen aufgeschlagen und lächelte ihn schwach an.
«Ich wusste nicht, dass du wach bist.»
«Wo ist Doktor Eberhardt?», fragte sie.
«Vermisst du ihn, Liebling?», neckte er sie.
Sofia schüttelte entschieden den Kopf. «Er ist ein seltsamer kleiner Mann. Ich verstehe ja immer noch nicht, wie es Edvard gelungen ist, ihn herzuholen.»
Johan hatte auch schon darüber nachgedacht, wie sein Taugenichts von Schwager dieses Wunder vollbracht hatte. Aber das war sicher seine geringste Sorge, dachte er resigniert.
«Gönn dir noch ein wenig Ruhe, ich lese dir solange Mamas Brief vor», sagte er. «Milla und Gabriella lassen schön grüßen.»
Sofia schloss die Augen und lauschte, während Johan ihr vorlas.
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27
Nordsee
September 1881
Stöhnend beugte Seth sich über die Waschschüssel in der Kabine des Schiffes, das ihn und seinen Sekretär über die Nordsee nach England brachte. Er wünschte, er wäre tot. Als das Schiff leicht schaukelte, fluchte er. Es war so gut wie windstill, aber er fühlte sich, als würden sie durch den größten Sturm fahren. Jedes Mal, wenn das Schiff schlingerte, tat sein Magen sein Bestes, sich komplett umzustülpen. Beim nächsten Rollen verlor er den Kampf um sein letztes bisschen Würde und erbrach sich heftig, obwohl sein Magen schon völlig leer war.
Bis Seth und sein Sekretär ein paar Tage nach der Abreise aus Göteborg schließlich an ihrem ersten Ziel ankamen, der Hafenstadt Hull in England, hatte Seth jede Menge Zeit gehabt, sich in seine miese Laune hineinzusteigern. Er verabscheute England – seit jeher –, und von allen deprimierenden Städten, die er je besucht hatte, war diese graue Hafenstadt die schlimmste, dachte er, als er verzagt an Land ging und den Kragen aufstellte, um sich vor dem heftigen Regen zu schützen. Außerdem hasste er Schiffe von ganzem Herzen. Das Schlimmste, was ihm seiner Ansicht nach passieren konnte, war das Gefühl hilflosen Ausgeliefertseins, und genau das überkam ihn, wenn er auf ein Schiff stieg.
«Mit dem nächsten Schiff gibt es irgendwelche Probleme», teilte ihm sein Sekretär gerade bekümmert mit.
Natürlich gab es Probleme, dachte Seth düster. Sonst ging ja auch nichts glatt, warum sollte da ausgerechnet die Schiffspassage nach New York reibungslos vonstattengehen?
«Ein Schiff fährt schon heute Abend», fuhr Henriksson fort. «Aber das nächste geht erst in zehn Tagen. Und der Zug nach Liverpool fährt in Kürze ab. Soll ich Plätze für heute Abend auf dem Schiff buchen?»
Seth brauchte Zeit zum Nachdenken. Sie waren gerade an Land gegangen, und er hatte sich noch nicht von der Überfahrt erholt. Noch
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