Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Und jetzt sah es ganz so aus, als müsste er schon heute Abend aufs nächste Schiff steigen. Er blinzelte, als ihm das Regenwasser in die Augen rann. Es war alles so schwierig. Warum war Beatrice nicht gekommen, obwohl sie es versprochen hatte? Warum? Jetzt musste er plötzlich entscheiden, ob er nach Amerika fahren sollte – wie er es verabredet und versprochen hatte – oder dem übermächtigen Drang nachgeben sollte, nach Göteborg zurückzufahren. Zu Beatrice, die nicht hatte kommen wollen. Doch er hatte Lily versprochen zu kommen – und er hielt seine Versprechen schließlich, dachte er erbittert. Und er wollte Jack treffen, bevor es zu spät war. «Wir fahren heute Abend», sagte er verdrossen. Er würde dafür sorgen, dass sie so bald wie möglich nach Schweden zurückkehrten.
*
Gereizt rutschte Seth auf seinem Sitz hin und her. Der Amerikabesuch zog sich hin, und das machte ihn langsam wahnsinnig. Aus den zwei Wochen, die er anfangs in New York hatte verbringen wollen, war schon ein knapper Monat geworden, und ein Ende seines Besuchs war immer noch nicht abzusehen. Er sah auf seine Uhr. Dann warf er dem Bankier einen grimmigen Blick zu, da dieser einfach kein Ende finden wollte mit seinem Monolog. In seinem ganzen Berufsleben hatte Seth lange Sitzungen grundsätzlich gemieden, doch sogar diese relativ kurze Besprechung jetzt machte ihn fast verrückt. Drei Minuten wollte er dem Mann noch geben, dachte Seth, dann würde er einfach aufstehen und gehen. Er warf einen Blick auf seinen Sekretär, der pflichtbewusst alles protokollierte. Er musste Henriksson nach Schweden schicken, es gab keine andere Lösung. Zum einen verging der Mann geradezu vor Sehnsucht nach seiner Frau – was Seth eher reizte als sein Mitgefühl weckte –, zum andern wollte Seth, dass jemand mit Beatrice sprach, und er selbst konnte New York momentan beim besten Willen nicht verlassen. Er fuhr sich durchs Haar und sah wieder auf die Uhr. Die Zeiger schienen sich überhaupt nicht weiterbewegt zu haben.
Sie fehlte ihm viel mehr, als er erwartet hätte. Er hatte ihr zahllose Briefe geschrieben, doch von ihr war keine einzige Antwort gekommen. Die Briefe und Telegramme von Johan trafen hingegen regelmäßig ein, also funktionierte die Göteborger Post wohl einwandfrei, dachte er. So musste Seth sich wider Willen in das schicken, was zu glauben er sich so lange geweigert hatte: Beatrice wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Natürlich konnte er Johan schreiben und nachfragen, dachte er, während seine Laune noch weiter absackte. Aber andererseits wollte er Beatrice nicht kompromittieren.
War vielleicht alles ein Irrtum? Konnte Beatrice etwas zugestoßen sein, ohne dass Johan es erwähnt hatte? Die Ungewissheit nagte an Seth.
Er überlegte auch, ob sie vielleicht gar schwanger geworden war. Aber sie hätte ihm doch sicher geschrieben, wenn dem so wäre? Egal, was sie für ihn fühlte, in so einem Fall hätte sie ihn doch gebeten zurückzukommen, oder? Und das einzig Richtige zu tun? Und wenn etwas anderes passiert wäre, hätte doch Johan etwas gesagt, oder? Aber wie er die Dinge auch drehte und wendete, eines stand fest: Irgendjemand musste zurück nach Göteborg und sich davon überzeugen, dass es ihr gut ging. Selbst wenn Beatrice ihn nicht in ihrem Leben haben wollte, hatte er jetzt doch eine gewisse Verantwortung für ihr Wohlbefinden, redete er sich ein. Bekümmert rutschte er auf seinem Stuhl hin und her. Er konnte einfach nicht aufhören, darüber nachzudenken, was wohl gerade in Schweden passierte. Hätte er Johan alles erzählen sollen, was er über Edvard gehört hatte? Vielleicht. Aber er wusste ja nicht einmal, ob er selbst die unguten Gerüchte glauben sollte, die Henriksson bei seinen Nachforschungen zu Ohren gekommen waren. Außerdem hatte Johan im Moment genügend andere Sorgen, da war es wohl kaum angemessen, ihn mit dem Klatsch über seinen Schwager zu belästigen. Bestimmt zum hundertsten Mal überlegte Seth, ob er Beatrice schreiben und ihr sagen sollte, dass sie sich vor Edvard in Acht nehmen musste.
Er seufzte und betrachtete die Papierstapel, diese ganzen kummervollen Dokumente, die zu den zahllosen Gründen gehörten, warum er noch in Amerika bleiben musste, obwohl er lieber zu Beatrice heimreisen wollte. Doch da es so aussah, als würde er mindestens ein paar weitere Wochen in New York gebraucht, war er eben gezwungen, seinen Sekretär zu entbehren, beschloss er.
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