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Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)

Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)

Titel: Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simona Ahrnstedt
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Es war eine Notlösung, aber wenn er die ernsten Gesichter an diesem Tisch sah, wurde ihm bewusst, dass seine Anwesenheit hier sehr vonnöten war. Er wollte Beatrice beschützen, bei ihr sein, sich um sie kümmern, doch gleichzeitig brauchte Lily ihn hier. Seth gab den Versuch auf, auch nur den Anschein zu erwecken, dass er dem Vortrag des Bankiers folgte. Was sollte er mit Lily anfangen?
    Es war schön gewesen, sie zu wiederzusehen, und er war unerwartet begeistert von ihrem Sohn, Daniel, einem ernsten Jungen, der sofort Zuneigung zu ihm gefasst hatte. Aber als er vor einem Monat angekommen war, erwartete ihn in Amerika ein einziges Chaos.
    Lily und ihre Familie hatten sich gefreut, ihn zu sehen, doch ihre Freude war getrübt von der Sorge um den Vater, und tatsächlich war Jack Templeton nur wenige Tage nach Seths Ankunft in New York an einem Herzanfall gestorben. Lilys Mutter, Lily und ihre fünf Schwestern waren noch mitten in der tiefsten Trauer, als sie von der nächsten Katastrophe getroffen wurden. Jacks Geschäfte befanden sich in einem bedauerlichen Zustand, und der Familie drohte der Konkurs. Jack hatte die Familie zusammengehalten, und mit seinem Tod fiel sie auseinander. Als eines Abends dann auch noch Lilys Mutter tot neben einer leeren Flasche Laudanum aufgefunden wurde, war Seth klar, dass er bedeutend länger bleiben würde, als er vorgehabt hatte. Jetzt schlossen sich Lily und ihre fünf Schwestern ihm in allen Dingen an, und er arbeitete wie ein Tier, um sie vor dem Ruin zu retten. Seth seufzte. Lily brauchte ihn. Ihre Familie brauchte ihn. Alle brauchten ihn. Außer Beatrice.
    *
    Lady Lily Tremaine band das hellblaue Seidenband ihres Hutes unter dem Kinn zu einer Schleife und musterte kritisch ihr Spiegelbild. Sie war immer noch sehr schön, stellte sie sachlich fest und strich sich eine blonde Locke hinters Ohr. Obwohl sie sich der dreißig näherte, sah sie aus wie ein junges Mädchen. Ihre ganze Jugend über hatte Lily – wie viele ihrer Freundinnen in der amerikanischen Oberklasse – davon geträumt, einen europäischen Adligen zu heiraten und auf einem Schloss in England zu wohnen. Doch während die anderen Mädchen ihre Träume irgendwann hinter sich ließen und die Wirklichkeit mit reichen amerikanischen Ehemännern arrangierten, träumte Lily weiter. Und als Lord Tremaine die Bühne betrat, schlug sie zu. Es war ein Kinderspiel gewesen, den bedeutend älteren britischen Lord zu becircen, nicht zuletzt mit dem enormen Vermögen ihrer Familie im Rücken, dachte sie, und knöpfte sich die dünnen Wildlederhandschuhe zu. Und als Lord Tremaine um ihre Hand anhielt, sagte sie sofort Ja, ohne dem ernsthaften, armen Norweger, der ihr den Hof machte, weitere Beachtung zu schenken. Heute wusste sie, dass Seth aufrichtig verliebt gewesen war – in sie und nicht nur in das Geld ihrer Familie. Wahrscheinlich hatte sie ihn zutiefst verletzt, auch wenn das niemals ihre Absicht gewesen war, dachte sie traurig.
    Das Leben in England war eine Hölle gewesen, die mit ihren Mädchenphantasien nichts gemein hatte. Lord Tremaine trank, und es dauerte nicht lange, bis er sie regelmäßig schlug. Nicht einmal als er nach ein paar Monaten entdeckte, dass sie schwanger war, hörte er auf, seine junge Frau zu misshandeln.
    Lily begegnete ihrem Blick im Spiegel, ihrem makellosen Gesicht. Blaue Flecken verblassen, Erinnerungen weichen neuen Erinnerungen, und ihr Sohn war das alles wert gewesen, stellte sie fest. Daniel war ihr Ein und Alles und lange Jahre der einzige Grund, das Leben lebenswert zu empfinden – und es war ihr gelungen, ihn vor der willkürlichen Gewalt seines Vaters zu beschützen. Darauf zumindest war sie stolz.
    An dem Tag, als Lord Tremaine auf der Treppe stürzte und sich das Genick brach, hatte sie geweint, weil sie so dankbar war, dass das Leben ihr und ihrem Sohn eine zweite Chance gab. Einen Tag nach der Beerdigung war sie abgereist, nach Hause zu ihren Eltern in Amerika, an den einen Ort auf Erden, an dem sie sich immer sicher und geborgen fühlte. Doch nach dem plötzlichen Tod beider Elternteile war die Geborgenheit verschwunden, aufgelöst wie Nebelschwaden in der Sonne.
    Lily sah sich im Zimmer um. Lauter kahle Wände, die verrieten, dass ein Gegenstand nach dem anderen verkauft worden war, um ihre Schwestern und sie über Wasser zu halten. Jetzt saß sie also hier in New York in den Ruinen ihres Elternhauses. In ein paar Jahren wurde sie dreißig, und ihr Sohn und sie waren

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