Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
völlig hilflos.
Nein, ihr Leben war nicht so verlaufen, wie sie es sich gedacht hatte. Doch Seth hatte sie einmal geliebt, und jetzt kämpfte er für das Überleben ihrer Familie. Entschlossen richtete sie sich auf und verließ das Haus. Das Leben hatte ihr eine zweite Chance gegeben, und diesmal wollte sie sie bestimmt ergreifen.
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28
Göteborg
November 1881
Beatrice blickte aus dem Fenster und sah die Leute im Novemberwind vorbeieilen. Es regnete, und das Haus war schrecklich ungemütlich. Trotz des tobenden Unwetters war es drinnen ganz still. Harriet und Miss Mary waren zum Einkaufen gegangen, Edvard war irgendwohin verschwunden, und Johan war im Obergeschoss bei Sofia. Sie selbst hatte versucht, sich ein wenig auszuruhen, doch das Unwetter machte sie unruhig, und sie streifte planlos durchs Haus, auf der Suche nach irgendeiner Beschäftigung. In der Bibliothek im Erdgeschoss brannte ein Kaminfeuer, und sie schlüpfte in den warmen Raum. Zerstreut ging sie von Bücherregal zu Bücherregal und las die Titel auf ein paar Buchrücken, dann zog sie sich einen Band heraus und setzte sich in einen Sessel, um ein wenig zu lesen. Sie legte sich eine Decke auf den Schoß und versank über dem aufgeschlagenen Buch in Gedanken.
Heute Morgen hatte sie ihre Monatsblutung bekommen, und sie redete sich ein, dass sie selbstverständlich erleichtert darüber war. Trotzdem hatte sie angefangen zu weinen, als sie das Blut gesehen hatte. Vielleicht war sie einfach zu erschöpft. Denn mit Seth Hammerstaals unehelichem Kind schwanger zu werden und als gefallene Frau gebrandmarkt zu sein war doch wohl das Letzte, was sie sich im Leben wünschen würde, oder nicht?
Gereizt blinzelte sie die Tränen aus den Augen. Wie war es nur möglich, dass sie immer noch um ihn weinte? Ihr Blick fiel auf den Schreibtisch an der Wand, an dem Johan seine Korrespondenz erledigte. Und plötzlich wurde ihr klar, dass hier wahrscheinlich auch Seths Briefe gelandet waren. Rasch stand sie auf und ging zu dem Tisch, wo ihr Blick an einem Stapel mit geöffneten Umschlägen hängen blieb. Sie trugen amerikanische Briefmarken und mussten von Seth sein, dachte sie, und ihr Herz schlug sofort schneller. Die Neugier gewann die Oberhand über ihr schlechtes Gewissen, und sie griff nach dem Stapel und zog sich die letzten Schreiben heraus. Wenn sie so offen herumlagen, konnten sie ja wohl nicht so geheim sein, beschwichtigte sie ihr schlechtes Gewissen. Mit klopfendem Herzen begann sie zu lesen, und plötzlich war ihr, als könnte sie Seths tiefe Stimme aus den kurzen Zeilen heraushören. Sie las einen Brief nach dem anderen und musste feststellen, dass er nie nach ihr fragte. Es ging um verschiedene geschäftliche Angelegenheiten, manchmal erkundigte er sich nach Sofia, aber mit keinem Wort erwähnte er sie. Der Name einer gewissen Lady Lily Tremaine hingegen fiel gleich mehrmals. Das letzte Schreiben war ein Telegramm, das erst vor Kurzem gekommen war, und Beatrice las es mit pochendem Herzen.
Johan,
es tut mir leid, aber ich muss meine Heimreise nach Göteborg bis auf Weiteres verschieben. Lily hat mich gebeten, sie nach England zu begleiten, und ich werde mit ihr und ihrem Sohn Daniel fahren. Leider verzögert sich meine Rückkehr dadurch um mindestens einen Monat, vielleicht mehr.
Herzliche Grüße an Deine Frau und Deine Familie.
Seth
Sie las das Schreiben mehrmals hintereinander, und ihr wurde es innerlich eiskalt. Wer war diese Lily? Es knackte im Kamin, und Beatrice fuhr zusammen. Seth würde also mit dieser Lily und ihrem Sohn nach England fahren. Das bedeutete wohl, dass sie ihm wichtiger waren als sie. Diese schmerzliche Einsicht krampfte ihr Herz zusammen und schnürte ihr den Hals zu. Mit äußerster Mühe widerstand sie dem Impuls, aufzustehen und Seths Briefe ins Feuer zu werfen. Stattdessen legte sie sie fein säuberlich zurück auf den Tisch, ging wieder zum Sessel, zog sich die Wolldecke um die Beine zurecht und starrte ins Leere.
*
Ein paar Tage später stand Beatrice allein am Hafen, gepeitscht von Wind und Regen.
«Beatrice!», hörte sie Johans Stimme hinter sich. Sie drehte sich langsam um.
Er trat neben sie. «Du bist ja ganz durchnässt», sagte er. «Was machst du denn hier unten? Ich habe dich gesucht.»
Beatrice sah ihn an. Der Regenschirm schützte sie zwar einigermaßen, aber in dieser Stadt regnete es einfach andauernd, dachte sie unglücklich. Es war kalt und ungemütlich, und sie fror
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