Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
eigentlich?», fragte er.
«Ich friere. Und ich sollte jetzt wirklich gehen», sagte sie müde.
Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass sie nur ihren Morgenmantel umhatte. Er war ein wenig verrutscht, und Seth sah, dass sie darunter nur ein dünnes Nachtkleid trug. Als sie ins Zimmer geschlüpft war, war es warm und stickig gewesen, doch nun fiel die Temperatur schlagartig. Gereizt versuchte Seth, seine unmittelbare Reaktion auf ihren leichtbekleideten Körper zu unterdrücken. Das war nicht der richtige Moment, und er hatte ohnehin schon genug Schaden angerichtet. «Ich ziehe mir etwas über, dann begleite ich dich zurück», bot er an.
«Aber wenn uns jemand sieht», protestierte sie.
«Lass mich zumindest dafür sorgen, dass du sicher in dein Zimmer kommst.»
Er brauchte ein Weilchen, bis er im dunklen Ankleidezimmer seine Sachen zusammengesucht hatte. Dann zog er sich Hemd und Hose über, schlüpfte in seine Schuhe und eilte zurück ins Schlafzimmer, verärgert darüber, dass er dennoch so lange gebraucht hatte.
Beatrice hatte es sich inzwischen bequem gemacht. Sie hatte den Kopf auf das Kissen gelegt, die Füße unter die Bettdecke geschoben und war eingeschlafen.
Er blieb stehen. Eigentlich sollte er dafür sorgen, dass sie in ihr Zimmer zurückkam. Doch er brachte es nicht über sich, sie zu wecken. Er wollte sie nicht aus den Augen lassen, nicht heute Nacht, nicht nach dem, was sie ihm alles erzählt hatte. Nun konnte er zumindest dafür sorgen, dass sie eine Nacht lang sicher und geborgen war. Behutsam deckte er sie zu und hörte sie zufrieden murmeln, während sie ihre Wange ans Kissen schmiegte. Seth trat ans Fenster. Der Wind nahm stetig zu, und die Gardinen begannen zu flattern. Tief atmete er die frische Luft ein.
Er fragte sich, was er unternehmen sollte. Aber eigentlich kannte er die Antwort bereits. Er musste mit Lily sprechen. Das bedeutete, dass er das Versprechen brechen musste, das er ihr und ihrem Vater gegeben hatte, einem Mann, vor dem er großen Respekt gehabt hatte. Doch er konnte diese Beziehung nicht fortsetzen. Lily verdiente einen Mann, der sie liebte, und Seth wusste schon seit Langem, dass er es nicht tat. Sie war eine liebe Freundin, und er hatte ihren Sohn ins Herz geschlossen, doch sie konnten nicht heiraten. Gleich morgen würde er sie um die Auflösung der Verlobung bitten. Auf dieses Gespräch freute er sich wahrlich nicht, aber er wusste, dass es unumgänglich war.
Seth seufzte tief. Damit war aber erst die Hälfte des Problems gelöst. Denn Beatrice hatte ja immer noch Alexandre, den Mann, der für sie in den letzten Monaten da gewesen war und sie in der schweren Zeit gestützt hatte. Und vielleicht war das ja auch gut so? Wie sollte sie noch etwas mit ihm zu tun haben wollen nach all dem ganzen Kummer, den er ihr bereitet hatte?
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38
Seth weckte sie kurz vor Morgengrauen, und in der atemlosen Sekunde, in der sich ihre Blicke trafen, hoffte Beatrice, dass er neben sie ins Bett schlüpfen würde. Doch er sah sie nur besonnen an. «Es wird gleich hell», war alles, was er sagte.
Dann wartete er mit dem Rücken zu ihr an der Tür, während Beatrice aufstand und sich in der kühlen Luft den Morgenmantel zuband.
Schweigend gingen sie zu ihrem Zimmer. Wie durch ein Wunder begegnete ihnen unterwegs niemand. Vor ihrer Tür blieben sie stehen. Es war unmöglich, Seths Gesichtsausdruck im Dunkeln zu deuten. Er sah sie nur wortlos an, dann hob er die Hand, und sie spürte die Wärme auf ihrer Wange, als er ihr eine Haarsträhne hinters Ohr strich. Seine Knöchel streiften ihre Haut und zögerten.
«Hast du mir verziehen, Beatrice?», fragte er.
Ihr Herz klopfte wie verrückt. «Was?», flüsterte sie.
«Alles», gab er zurück, strich ihr federleicht über die Wange und ließ den Daumen über ihren Wangenknochen wandern. «Dass ich nichts verstanden habe – und all die ekelhaften Dinge, die ich gesagt habe. Und dass ich dich verraten habe.»
Sie legte ihre Hand auf seine, schloss die Augen und genoss die warme Handfläche auf ihrer Wange. «Es war nicht deine Schuld», flüsterte sie. «Es war nie deine Schuld, und ich habe dir schon lange verziehen.» Sie blickte in sein ernstes Gesicht. «Verzeihst du mir auch? Dass ich dir nicht die Wahrheit erzählt und dir misstraut habe?»
«Ich glaube, ich könnte dir alles verzeihen», sagte er, und sie war sicher, dass er sie küssen würde. Doch dann zog er sich zurück und reichte ihr das Buch, das sie bei
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