Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
gewünscht, dass sie protestierte. Sie war noch nicht zu alt für den Rohrstock, und er war immer noch ihr Vormund. Doch sie sah ihn nur mit ihren schrägen, frechen Augen an.
«Du kannst jetzt auf dein Zimmer gehen und über meine Worte nachdenken», sagte er und wedelte mit der Hand.
«Sie sind mehr als deutlich gewesen», erwiderte sie und stand auf. «Onkel», fügte sie hinzu.
Wilhelm hatte den Sarkasmus in diesem letzten Wort noch nicht richtig erfasst, als sie auch schon aus dem Zimmer verschwunden war.
Beatrice schaffte es mit knapper Not in ihr Zimmer, wo sie sich in die Waschschüssel erbrach. Jedes seiner Worte hatte sie getroffen wie ein Messerstich. Sie spülte sich den Mund aus und begegnete ihrem verzweifelten Blick im Spiegel.
Sie musste nachdenken. Was sollte sie tun, zu wem sollte sie gehen? Seth existierte nicht mehr. Mit Sofia konnte sie über diese Angelegenheit nicht sprechen. Johan? Sie schüttelte den Kopf. Johan blickte auf sie herab.
Wie konnte ein Mensch nur so einsam sein?
Sie setzte sich aufs Bett. Vielleicht gab es ja doch jemand. Eine Person, die so viel Macht besaß, dass sie sich gegen ihren Onkel und Rosenschöld und auf ihre Seite stellen konnte? Ein Mann, dem sie nicht egal war.
Entschlossen stand sie auf. Sie hatte nicht vor aufzugeben. Sie würde einen Brief schreiben.
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18
Schloss Wadenstierna
Juni 1881
«Wie ist er heute gelaunt?», fragte Christian nonchalant, während er auf einem Grashalm herumkaute. Obwohl der Fünfzehnjährige versuchte, ganz unbeschwert zu klingen, konnte er seinen Pflegevater nicht täuschen.
«Kommt darauf an, womit du vergleichst», antwortete Olav. Sie waren gerade im Mälaren geschwommen und lagen jetzt in der Sonne, um sich zu trocknen – was in der brütenden Hitze ganz schnell ging. Sie verbrachten ihre Sommerferien auf Seths Schloss mit Schwimmen, Angeln und Reiten und fühlten sich wunderbar in dem verschwenderischen Luxus, den sie genossen, wenn sie in Schweden zu Besuch waren.
Ihr einziger Kummer war Seth mit seinen Launen. Er hatte bisher nie Probleme gehabt, sein Temperament im Zaum zu halten, und er hatte niemals, niemals seinen Zorn an einem Unbeteiligten ausgelassen. Doch diesen Sommer war er wie ausgewechselt. Als ob er ständig vor unterdrückter Wut bebte, dachte Olav.
«Heute Morgen hat er ein Dienstmädchen gescholten, weil sie einen Wasserkrug hat fallen lassen. Das sieht ihm doch überhaupt nicht ähnlich», meinte Christian.
«Das geht bald vorüber, du wirst schon sehen», antwortete der Pfarrer leichthin, doch innerlich machte er sich große Sorgen um seinen ältesten Pflegesohn. Seth war von morgens bis abends gereizt. Er fauchte seine Bediensteten wegen der geringsten Kleinigkeit an, trieb seine gesamte Dienerschaft, Sekretäre und Assistenten zu halsbrecherischem Arbeitstempo an und fand überall etwas auszusetzen.
Das Leben im wunderbaren Schloss Wadenstierna war immer von Freude und entspannter Disziplin geprägt gewesen, doch jetzt sah man an jeder Ecke nervöse Diener. Jeder hatte Angst, einen Fehler zu begehen und beim Hausherrn einen neuerlichen Wutausbruch hervorzurufen.
«Ich hatte gehofft, er würde mehr Zeit mit uns verbringen, wenn wir auf Wadenstierna sind, aber er scheint ja immerzu beschäftigt zu sein», fuhr Christian fort. Nur schwer konnte er die Enttäuschung darüber verbergen, dass der vergötterte Bruder den Großteil seiner Tage im Arbeitszimmer zubrachte.
Und da lag der eigentliche Grund dieser Sorgen, dachte Olav. Denn auch wenn Seth seine Angestellten antrieb, so war das doch nichts im Vergleich zu der Rücksichtslosigkeit, mit der er sich selbst zur Arbeit trieb. Sein Arbeitstempo – das schon immer außergewöhnlich hoch gewesen war – war mittlerweile furios. Olav vermutete, er musste wohl mal ein Wörtchen mit ihm reden. Er seufzte innerlich. Ein ernstes Wörtchen mit Seth zu reden war nicht unbedingt das, was er sich unter schönen Ferien vorstellte. Aber irgendjemand musste es ja tun.
Als es klopfte, warf Seths Sekretär, Jesper Henriksson, seinem Arbeitgeber einen besorgten Blick zu. Der Norweger schätzte es gar nicht, wenn man ihn bei der Arbeit unterbrach, und in seiner derzeitigen Gemütsverfassung wusste man nie, was er tun würde, wenn man ihn störte.
«Herein», rief Seth.
Olav Erlingsen trat ein. «Es ist halb sieben», sagte er.
«Ja?»
Niemand kann so arrogant die Augenbraue hochziehen wie Seth Hammerstaal, dachte
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