Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
immer noch viele Leute auf dem Hof auf.
«Ich freue mich wirklich, Sie kennengelernt zu haben», sagte Beatrice aufrichtig und drückte seinen Arm.
«Gute Nacht, Mademoiselle», sagte Jacques warm und küsste ihr die Hand.
«Gute Nacht und danke für alles.»
Am nächsten Morgen kam der Augenblick, vor dem Beatrice gegraut hatte. Sie trat auf die Treppe und beobachtete die Wagen, die auf dem Hof vorfuhren. Wilhelm und Edvard waren schon wieder nach Stockholm zurückgereist. Auch Tante Harriet, Miss Mary und sie sollten mit dem Wagen zum Bahnhof fahren. Es wurde Zeit, Abschied zu nehmen.
Seit dem Tag, an dem sie Uppsala als Vierzehnjährige verlassen hatte, waren Sofia und sie kaum jemals einen Tag getrennt gewesen. Alles hatten sie zusammen gemacht. Sie hatten Hunderte von Büchern gelesen, Tausende von Briefen geschrieben und all das gelernt, was sie jetzt als erwachsene Frauen wussten. Sofia hatte ihr beigebracht, wie man eine Tafel deckte, Leinen bestickte und mit Dienstmädchen redete. Beatrice hatte Sofia Mut und Fröhlichkeit beigebracht, die Lektüre verbotener Literatur und das Glück, eine Frau zur Freundin zu haben. Sie hatten sich getröstet, wenn das Leben schwer war, hatten Geheimnisse, Freud und Leid geteilt, gemeinsam die Tristesse des Alltags ertragen und von der Zukunft phantasiert.
Diese Zeit war jetzt vorbei. Für immer.
«Was soll ich ohne dich nur anfangen?» Sofia hatte Tränen in den Augen.
Beatrice hätte gern etwas Aufmunterndes gesagt, doch ihre Stimme versagte ihr den Dienst. «Kümmere dich gut um Johan, meine Liebe, und sieh zu, dass er sich auch gut um dich kümmert. Ich bin glücklich, wirklich überglücklich, dass ihr euch bekommen habt.»
«Ich komme dich auch bald besuchen, versprochen», sagte Sofia.
Die Cousinen umarmten und drückten sich.
Jacques trat neben sie.
«Au revoir» , sagte er und küsste Beatrice die Hand. Sie neigte zur Antwort nur den Kopf.
Seth war nirgends zu sehen, doch sie dachte kaum an ihn. Für sie existierte er nicht mehr. Beatrice stieg in den Wagen und verließ Svaneberg, ohne sich einmal umzusehen.
Seth erwachte mit einem Stöhnen. Er hatte solche Schmerzen, dass er sich kaum rühren konnte. Als er den Arm einen Millimeter bewegte, bereute er es sofort, da sich nicht nur die gebrochene Rippe bemerkbar machte, sondern auch jeder Muskel, jede Sehne und jedes Band in seinem Körper gewaltig protestierte. Schmerzen. Richtig üble Schmerzen.
Bett – er lag irgendwo in einem Bett. Das war gut.
Svaneberg. Er war auf Svaneberg, bei Johan und …
Beatrice. Nein! Nicht Beatrice. Fragmente des vergangenen Abends kreisten in seinem Kopf. Aber das musste doch ein Albtraum gewesen sein! Er hatte sich doch nicht tatsächlich aufgeführt wie das letzte Schwein?
Als die Erinnerungen eine nach der anderen unbarmherzig zurückkehrten, brach ihm der kalte Schweiß aus. Nach der Auseinandersetzung mit Beatrice hatte er sich selbst buchstäblich unter den Tisch getrunken. Die Schankkellnerin hatte ihn sitzen lassen, als ihr klar wurde, dass er weder interessiert noch fähig war, sich tiefergehend mit ihr zu befassen. Er konnte sich vage erinnern, dass man ihn nach Hause getragen hatte. Als er mit einem Fuß wippte, stellte er fest, dass er immer noch seine Stiefel anhatte. Er war noch angezogen und fühlte sich, als hätte man ihn aufs Schrecklichste gefoltert. In der Nacht war er von Albträumen heimgesucht worden, in denen sich Gräueltaten, Schlachten und Blut mit Beatrices Enttäuschung und ihrem anklagenden Blick mischten.
Der Körper war schweißnass, und eine Übelkeitswelle nach der anderen überlief ihn. Er starb fast vor Durst, doch seine Beine wollten ihm einfach nicht gehorchen, und so musste er liegen bleiben. Sein Herz raste, und sein Schädel wollte ihm schier zerspringen.
Plötzlich flog mit einem höllischen Krach die Tür zu seinem Schlafzimmer auf. Als sie gegen die Wand donnerte, hätte er sich beinahe übergeben, so sehr ging ihm das Geräusch durch Mark und Bein.
«Was zum Teufel …?», krächzte er heiser. Die Übelkeit kam und ging in besorgniserregend kurzen Intervallen.
«Wie geht es dir?», erkundigte sich Jacques Denville mit kraftvoller Stimme und lächelte maliziös.
«Schrecklich.»
«Gut.»
«Was zum Teufel willst du?» Seth hätte gern barsch geklungen, doch er brachte nur ein Flüstern zustande.
«Ich wollte dir nur sagen, dass sie gerade gefahren sind», teilte ihm Jacques in derselben unbarmherzigen
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