Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
Henriksson.
«Morgen ist Mittsommer, und es ist halb sieben, es wäre jetzt also an der Zeit, Feierabend zu machen», sagte der Pfarrer energisch.
«Bist du müde?», fragte Seth und sah seinen Sekretär irritiert an. Jesper Henriksson, der seit fast drei Wochen von Morgengrauen bist spätabends gearbeitet hatte, blickte abwechselnd von Seth zu Olav. Der Pfarrer nickte unmerklich.
«Ein bisschen vielleicht», meinte er.
Seth lehnte sich zurück und sah ihn scharf an. Henriksson spürte, wie ihm ein Schweißtropfen über den Rücken rann.
«Ich würde sagen, wir können für heute Schluss machen. Aber sei morgen früh zeitig hier.»
«Seth!», mahnte sein Pflegevater empört.
Der Norweger sah ihn kühl an.
Jesper wusste, dass sein Arbeitgeber Widerspruch nicht gewöhnt war, und er bewunderte den Mut des Pfarrers. Oder seine Tollkühnheit.
Doch schließlich seufzte Hammerstaal gereizt und lenkte ein: «Na gut, dann sehen wir uns am Montag», sagte er. «Und jetzt geh, bevor ich’s mir anders überlege.»
«Ja, Herr. Danke, Herr», antwortete Jesper und sammelte rasch seine Sachen zusammen.
Als der Sekretär das Arbeitszimmer verlassen hatte, sah Seth Olav an. «Bist du jetzt zufrieden?», fragte er ärgerlich.
«Ich dachte, du möchtest vielleicht mit mir ausreiten. Wenn du dabei ausnahmsweise auf deine halsbrecherischen Galoppaden verzichten kannst», erwiderte Olav ruhig.
Seth betrachtete seinen Freund und Pflegevater mit forschendem Blick. Mit Recht argwöhnte er, dass ihm jetzt die Leviten gelesen werden sollten. «Na dann, Herr Pfarrer, werde ich mal zwei Pferde satteln lassen», seufzte er.
Als sie losritten, hatte sich die schlimmste Hitze gelegt, und der Hof war voller Leben. Hühner und Schweine liefen herum, zwischen ihnen tollten ein paar Kinder umher. Die beiden ritten zu den Wiesen hinüber.
«Sag schon, was du mir sagen willst», forderte Seth ihn auf.
Olav antwortete nicht sofort, sondern ließ den Blick über die schöne Landschaft wandern, die fruchtbaren Äcker, den prächtig gedeihenden Wald und all die Menschen, die für seinen ältesten Pflegesohn arbeiteten und von ihm abhängig waren. Der Mälaren glitzerte, und man sah immer noch Fischerboote auf dem Wasser. Auf den Weiden graste das Vieh, und bei den Ställen bellten Hunde. Er war stolz auf Seth, der all das und noch viel mehr aus eigener Kraft aufgebaut hatte.
«Du bist überhaupt nicht mehr wiederzuerkennen, und das geht nun schon viel zu lange so. Deine Angestellten stehen kurz vor dem Aufstand, du jagst ihnen eine Heidenangst ein. Und mir auch, wenn ich ehrlich sein soll», begann der Pfarrer.
«Olav …»
«Nein, lass mich zuerst ausreden. Ich weiß, dass du arbeitest wie ein Tier, sowohl hier wie in Stockholm. Du stehst als Erster auf und arbeitest ohne Pause bis in den späten Abend. Und ich sehe, wie erbarmungslos du deine Sekretäre und Assistenten antreibst, die machen ja alle den Eindruck, als könnten sie im nächsten Augenblick zusammenbrechen.»
«Mir sind keine Klagen zu Ohren gekommen», erwiderte Seth steif.
«Als ob sie sich das trauen würden, bei deiner Laune», entgegnete Olav. «Ich mische mich für gewöhnlich nicht in deine Angelegenheiten ein …» An dieser Stelle schnaubte Seth laut, doch Olav fuhr unbeirrt fort: «… Aber ich mache mir Sorgen um dich. Und ich weiß auch, dass du nachts unruhig auf und ab läufst. Wann hast du eigentlich zum letzten Mal mehrere Stunden am Stück geschlafen?»
«Du übertreibst», meinte Seth.
«Sind die Albträume wiedergekommen?»
Seth zuckte mit den Schultern. «Sie waren nie weg», sagte er. «Ich habe sie jede Nacht, mal stärker, mal weniger schlimm.»
Olav verkniff sich die Anmerkung, dass Seth auch fast jeden Abend ausging, wenn er in Stockholm war. Dass er Einladungen annahm, die er früher gar nicht beachtet hätte. Dass man ihn bis spät in die Nacht auf Festen, Soireen und in Restaurants sah und wie in den Zeitungen ausgiebig darüber geklatscht wurde, mit welchen Frauen er Umgang pflegte.
«Du weißt, dass ich darüber nicht sprechen will», sagte Seth.
Doch Olav kannte Seth von Kindesbeinen an. Als Siebenjähriger waren sein zwei Jahre älterer Bruder und er an einem Fieber erkrankt, das im Ort grassierte. Seth hatte sich erholt, doch sein Bruder war gestorben, woraufhin seine Mutter, Torunn – die den Verlust ihres Lieblingssohnes nie verkraftete … immer gewalttätiger geworden war. Zwei Jahre später hatte Olav eingreifen müssen
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