Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
Kontoren der zahlreichen Reedereien, und atmete die typische salzige Göteborger Luft tief ein. Es war faszinierend, wie verschieden Städte sein konnten. Diese hier war von ihrem lebhaften Hafen und dem Gefühl vom großen Amerika-Abenteuer geprägt – überall hörte man verschiedene Dialekte und Sprachen, die Straßen rund um den Hafen summten erwartungsvoll, und dazu blies ständig ein leichter Wind.
Sie überquerte eine Straße, blieb vor einer Konditorei stehen und sah sehnsüchtig durchs Fenster, doch ohne Begleitung wagte sie sich nicht hinein. Stattdessen eilte sie zurück zum Haus in der Sillgatan, weil sie sich Sorgen machte, ob sie nicht schon wieder zu lange fortgeblieben war. Die Angst, dass sich Sofias Zustand weiter verschlechtern könnte, sobald sie aus dem Haus ging, ließ sie nie los.
Nachdem sie ihren Hut und ihre Handschuhe einem Hausmädchen übergeben hatte, lief sie schnell hinauf in Sofias Zimmer.
«Ich war unten am Hafen und habe dir Bonbons mitgebracht.» Sie legte die braune Tüte auf den Nachttisch und öffnete ein Fenster. Sie wusste, dass Sofia wahrscheinlich nichts essen konnte, aber aus dem Bedürfnis heraus, etwas zu unternehmen und nicht einfach zuzusehen, wie es Sofia mit jedem Tag und jeder Woche schlechter ging, kaufte sie ihr kleine Mitbringsel, kochte eine Kanne Tee nach der anderen und las laut aus Büchern vor, von denen sie wusste, dass Sofia sie mochte. Sie hoffte, dass ihre Fürsorge die Cousine nicht mehr ermüdete, sondern tröstete. «Heute ist die Luft ganz wunderbar. Sie kann dir unmöglich schaden.»
«Mama besteht darauf, dass das Fenster geschlossen bleibt», sagte Sofia müde. «Aber ich höre gern die Geräusche von draußen. Ich wünschte, ich könnte hinausgehen.»
«Bald können wir zusammen spazieren gehen, meine Liebe.»
Sofia nickte und schloss die Augen.
Sie konnten sich nichts mehr vormachen. In den Wochen seit ihrer Ankunft hatte sich Sofias Zustand nicht gebessert. Beatrice warf einen Blick auf ihre bettlägerige Cousine, die wieder eingeschlafen war. Sie war selten länger wach, und besonders erschöpft war sie dann, wenn der Arzt dagewesen war und sie zur Ader gelassen hatte.
Durchs Fenster sah Beatrice die Septembersonne über den diesigen Himmel wandern. Sie wärmte immer noch, doch der Herbst lauerte schon an der Ecke, und die Abende waren eher kühl. Sie lehnte die Stirn ans Fenster. Warum ging es Sofia nicht besser? Warum konnte der Arzt nicht mehr tun?
Sofia stöhnte, und Beatrice eilte an ihre Seite. Die Schwangerschaft würde noch ein paar Monate dauern, wenn der Arzt richtig gerechnet hatte, dachte Beatrice verzweifelt, während Sofia sich abmühte, um ein paar kleine Schlucke von der Limonade zu trinken. War es möglich, mehrere Monate so zu überleben?
Und dann auch noch eine Entbindung. Wenn Sofia doch nur kräftiger wäre. Wenn die Schwangerschaft doch schon weiter fortgeschritten wäre. Wenn doch …
Beatrice stellte das Glas ab. Sie setzte sich auf die Bettkante, strich Sofia über das matte Haar und sah zu, wie ihre Cousine wieder einschlummerte.
«So ist es gut, meine Liebe», murmelte sie und küsste sie auf die Stirn, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie konnte jetzt einfach nicht stark sein, also gestattete sie sich kurz, ein wenig zu weinen. Doch dann trocknete sie sich rasch das Gesicht, nahm Sofias magere Hand und rollte sich neben ihr im Bett zusammen, als könnte sie ihr so etwas von ihrer eigenen Kraft abgeben. Dann schlief auch Beatrice ein, so wie sie es oft getan hatte, als Sofia und sie noch Kinder gewesen waren und ihre Kümmernisse so geringfügig, dass sie bis zum nächsten Morgen verflogen waren.
Ein paar Stunden später weckte Johan sie vorsichtig. «Komm, du musst etwas essen», sagte er. «Du hast das Abendessen verschlafen, aber ich wollte ihnen nicht erlauben, dich zu wecken. Ich habe aber Bescheid gegeben, dass man dir eine kleine Mahlzeit herrichten soll.»
«Danke, ich komme gerne einen Moment runter.»
«Ich bleibe so lange bei ihr», sagte Johan und sah sie ernst an. «Danke, Beatrice.»
Sie setzte sich an den Esstisch und trank mit Genuss den heißen Tee. Wilhelm erschien im Türrahmen, zögerte aber auf der Schwelle, als er sie sah.
«Komm herein, Onkel. Hier ist frischer Tee», sagte sie freundlich. «Sofia schläft.»
«Ich habe gehört, dass du wieder gegen den Aderlass protestiert hast.»
«Weil Sofia danach jedes Mal schrecklich mitgenommen ist», erklärte
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