Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
unfassbar, dass sie sich demnächst nicht mehr sehen sollten, dass sie zu Rosenschöld gehören – beziehungsweise ihm gehören – würde. Dass Seth nur allzu bald eine andere Frau finden würde, mit der er lachen konnte und die er heiraten würde. Sie wollte sich einfach nur ins Bett legen und in ihr Kissen weinen, doch als sie das Haus betraten, wurden sie schon an der Tür von Miss Mary empfangen. Sie war vor ein paar Tagen aus England zurückgekehrt, und jetzt stand sie im Vorflur und war ganz grau im Gesicht.
«Was ist passiert?», fragte Harriet.
«Gerade ist ein Telegramm gekommen – Sofia ist krank.»
Beatrice unterdrückte einen erschrockenen Schrei.
Nicht Sofia, alles, nur nicht das. Nicht Sofia.
«Sie sind in Göteborg, können aber nicht weiterreisen. Sofia kann nicht transportiert werden, es geht ihr zu schlecht.» Mary sah sie verzweifelt an, und ihre Stimme brach, als sie sagte: «Johan scheint sich große Sorgen zu machen. Sie erwartet ein Kind.»
Gleich am nächsten Tag machten sie sich auf den Weg. Sie standen reisefertig im Flur, mit den Koffern zu ihren Füßen, und warteten auf die Droschke, die sie zum Hauptbahnhof bringen sollte. Beatrice, Mary und Harriet wollten den Vormittagszug nach Göteborg nehmen, Wilhelm ein paar Tage später nachkommen.
Es klopfte, und da die Dienstboten vollauf mit dem Gepäck beschäftigt waren, machte Beatrice selbst auf. Als sie die Tür öffnete, blickte sie direkt in Seths Gesicht.
«Komme ich ungelegen?», fragte er, als er ihren Gesichtsausdruck und das Chaos hinter ihr im Flur sah.
Wie oft hatte sie sich ausgemalt, ihn auf diese Weise wiederzusehen? Geträumt, dass er an die Tür klopfen und sie hier rausholen würde. Doch jetzt …
«Wir reisen nach Göteborg», erklärte sie. «Sofia ist krank.»
«Kann ich etwas tun?», fragte er ernst.
Beatrice lächelte traurig. «Es tut mir leid, aber es passt gerade wirklich schlecht.»
Sie sahen einander an.
«Seth?»
Seine grauen Augen ruhten intensiv auf ihr.
«Warum bist du hergekommen?», fragte sie.
Er zog ein kleines braunes Paket aus der Tasche und reichte es ihr. «Gute Reise, Beatrice», sagte er und ging davon.
Noch bevor sie den braunen Umschlag geöffnet hatte, wusste sie, was darin war. Und als Mary und Harriet später auf den Sitzen ihres Erste-Klasse-Abteils schliefen, strich sie mit den Fingerspitzen über das Päckchen auf ihrem Schoß.
Immer wieder las sie die wenigen Zeilen, die er geschrieben hatte, blickte mit glänzenden Augen auf den Zettel mit den kurzen, fast schroffen Worten, mit denen er sie bat, das Buch als Geschenk anzunehmen, als Ersatz für das verlorene. Sie versteckte die kleine Ausgabe vom Symposion zusammen mit dem Brief, den sie von Vivienne aus Uppsala bekommen hatte, in ihrer Handtasche. Doch den Zettel von Seth, das dünne Papier mit seiner kühnen Handschrift, behielt sie die ganze Fahrt über in der Hand, als wäre sie nicht in der Lage, die letzte brüchige Verbindung zu dem loszulassen, was sie verloren hatte.
*
Während ihr Gepäck in das Haus getragen wurde, das Johan in Göteborg gemietet hatte, eilte Beatrice nach oben zu Sofia. Man führte sie in einen dunklen Raum, der stark nach Kampfer roch. Es war so leise, dass sie zuerst glaubte, sich im Zimmer geirrt zu haben, doch dann hörte sie ein schwaches Rascheln vom Bett her.
«Ist Bea schon gekommen? Warum dauert das so lange?» Die Stimme war schwach wie ein Windhauch.
«Meine Liebe, verzeih, ich bin so schnell gekommen, wie ich nur konnte.» Beatrice trat ans Bett und versuchte zu verbergen, wie schockiert sie war. Als sie vor ein paar Wochen auseinandergegangen waren, hatte Sofia vor Glück und Gesundheit nur so gestrahlt, doch jetzt war ihr schönes Gesicht müde und abgemagert. Ihr blondes Haar lag in glanzlosen Strähnen auf dem Kissen, und jeder Atemzug schien sie große Mühe zu kosten.
«Ich bin froh, dass du gekommen bist», flüsterte Sofia, doch ihre Stimme klang mutlos. «Ich bin so müde, und ich wollte dich so gern sehen. Eigentlich hatte ich dir schon in Stockholm erzählen wollen, dass wir ein Kind erwarten, aber ich wollte erst ganz sicher sein.» Tränen liefen ihr über die Wangen. «Armer Johan, er wird furchtbar traurig sein.»
«Was redest du denn da für Dummheiten?»
Sofia schüttelte den Kopf. «Ich sehe doch, wie sie mich anschauen, wenn sie hereinkommen. Ich werde das nicht überstehen. Ich war schon immer so ein jämmerliches Ding.»
«So was darfst du nicht
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