Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
sie. «Ich habe gelesen, dass so etwas mehr schaden als nützen kann.»
Er trat einen Schritt ins Zimmer und schnaubte. «Immer liest du irgendwas.» Er schüttelte den Kopf. «Immer musst du dich einmischen und alles besser wissen. Glaubst du, du bist schlauer als die Ärzte?»
«Ich will das Beste für Sofia, weiter nichts», antwortete Beatrice. Ihre Stimme war ruhig, doch als sie die Teetasse hob, zitterte ihre Hand.
«Du und deine hochnäsige Art», zischte er. «Eine Schande bist du.»
«Müssen wir jetzt streiten? Können wir nicht in Sofias Interesse versuchen, freundlich miteinander umzugehen? Sie ist froh, mich hierzuhaben, auch wenn es dir da anders geht.»
«Meine Tochter hat immer gewusst, was das Beste für sie ist.»
Die Tränen brannten hinter ihren Lidern, doch sie war nicht traurig, sondern wütend. «Das ist Johans Haus», sagte sie. «Du kannst mich nicht rauswerfen. Oder möchtest du mich vielleicht wieder einsperren?»
Die Augen ihres Onkels verengten sich. «Ich verstehe nicht, womit ich das verdient habe. Dich und deine ständige Aufsässigkeit.»
Wäre sie nicht so müde und verzweifelt gewesen, hätte sie die Provokation vielleicht leichter schlucken können. Doch jetzt setzte sie die Tasse mit einem Knall ab. «Was ist, Onkel?», fragte sie eiskalt. «Bist du enttäuscht, weil du noch warten musst, bis du mich endlich los bist? Sag doch, wie hoch ist heutzutage der Preis für eine hilflose Nichte?»
Es ging so schnell und kam so unerwartet, dass sie sich gar nicht wehren konnte. Mit einem Schritt war er bei ihr und versetzte ihr eine so heftige Ohrfeige, dass sie glaubte, ihre Halswirbel würden herausspringen. Ihr Gesicht brannte, und im Ohr hörte sie einen Pfeifton. Er holte erneut aus, und sie hatte keine Chance, aufzuspringen und zu fliehen, daher hob sie nur die Arme, um den Schlag abzufangen, und machte sich auf den Schmerz gefasst. Gleichzeitig war ihr bewusst, dass sie irgendwie aus diesem Zimmer kommen musste.
«Nein!»
Dieses eine Wort schnitt durch die Luft wie ein Peitschenknall. Wilhelm hielt mitten in der Bewegung inne und wandte sich zur Tür. Beatrice keuchte auf, als sie Seth auf der Schwelle stehen sah. Er hatte die Szene beobachtet. «Wenn du sie noch einmal anfasst, wirst du dieses Zimmer nicht lebend verlassen», sagte er mit nur mühsam beherrschtem Zorn.
Seth schlug das Herz so heftig, dass ihm fast die Luft wegblieb. Den Blick hatte er auf Wilhelms erhobene Hand geheftet. Als er Beatrices Aufschrei gehört hatte, war er herbeigerannt, und als er sah, wie Wilhelm die Hand gegen sie erhob und sie sich auf ihrem Stuhl zusammenkrümmte, war ihm, als würde ihm die Wut einen Schleier vor die Augen legen.
«Beatrice?» Sie starrte ihn nur an. «Beatrice!», rief er, ohne die geballte Faust ihres Onkels aus den Augen zu lassen. Sie zuckte zusammen und nickte kurz, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie nicht verletzt war.
«Verschwinde», fauchte er den alten Mann an.
Erst sah es so aus, als wollte Wilhelm protestieren, und Beatrice fragte sich, ob er wirklich so dumm wäre und hier und jetzt sterben wollte, wegen ihr, einer Frau, die er verabscheute. Doch dann verließ er wortlos das Zimmer.
Seth kam zu ihr. Sie sah, dass er immer noch mit seiner Wut kämpfte, aber sie beherrschen konnte. Vorsichtig inspizierte er ihre Wange, und Beatrice konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken, als seine Finger ganz zart die Schwellung berührten.
«Hat er das früher auch schon getan?»
Die tiefe Stimme, die vor Sorge immer noch ganz heiser war, fühlte sich an wie eine warme Liebkosung.
«Er macht sich Sorgen um Sofia. Damit kommt er nicht zurecht», murmelte sie.
«Das ist keine Entschuldigung. Wenn er noch einmal die Hand gegen dich erhebt, ist er ein toter Mann.» Seth ließ sie los. «Du brauchst etwas zum Kühlen gegen die Schwellung.»
Sie hätte seine Hand am liebsten festgehalten. Nichts gab ihr mehr Sicherheit als seine Nähe, und als er sie losließ, hätte sie beinahe seine Hand gepackt, um ihn nicht wieder loszulassen.
Ihr Herz raste. War er wirklich gekommen, um sie wegzuholen?
«Was machst du hier?», flüsterte sie.
«Ich fahre via England nach Amerika», erwiderte er kurz angebunden. «Und die Schiffe nach England legen in Göteborg ab.»
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22
Stockholm
September 1881
«Du Idiot, was hast du bloß angerichtet? Bist du völlig verrückt geworden?»
Graf Rosenschöld beschimpfte ihn jetzt bereits seit einer
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