Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
dachten. Würde sie beim Grafen sicher sein? Die Sorge lag ihm schwer im Magen. Seth hatte natürlich immer gewusst, dass Frauen eher in Gefahr gerieten als Männer, aber er hatte es nie mit eigenen Augen gesehen, ihm war nie klar gewesen, wie machtlos eine Frau sein konnte.
«Wo wohnst du?», fragte Johan.
«Ich habe mich bereits in einem Hotel einquartiert. Mein Sekretär und sein Assistent werden jeden Moment hier eintreffen. Ich muss noch so einiges erledigen, bevor ich nach New York fahre.»
Johan wandte sich vom Fenster ab und setzte sich in den Sessel gegenüber von Seth. Ein Diener kam mit einem Tablett mit Kaffee, und sie ließen sich schweigend servieren.
«Kann ich irgendetwas für euch tun?», fragte Seth leise.
«Wir können nur auf den Arzt hoffen. Was sehr frustrierend ist.» Johan massierte sich den Nasenrücken. «Schwangerschaften sind nicht gerade sein Spezialgebiet. Wir haben nach einem Doktor Eberhardt geschickt, einem Spezialisten aus Deutschland, aber bis jetzt war es unmöglich, ihn herzuholen.» Johan starrte in seine Tasse.
Seth stellte seinen unberührten Kaffee ab. «Du siehst völlig erschöpft aus», sagte er. «Du darfst dich nicht so aufarbeiten, jetzt, wo Sofia dich am nötigsten braucht.»
«Ich weiß. Aber das alles ist meine Schuld. Sie hätte nicht schwanger werden dürfen, ihr Körper ist so zerbrechlich. Wenn die Krankheit sie nicht umbringt, wird es wahrscheinlich die Entbindung tun.» Johan sah Seth mit glänzenden Augen an. «Ich wünschte, das Kind würde sterben und sie überleben.» Er vergrub das Gesicht in den Händen. «Entschuldige.»
«Entschuldige dich nicht. Ich würde genauso fühlen.»
«Man darf die Hoffnung nie aufgeben, nicht wahr?» Doch Johan klang resigniert.
Seth musterte ihn, sah die Qual und seine Hoffnungslosigkeit. «Nein, das darf man nie», sagte er langsam.
Ein paar Tage nach Seths unverhofftem Auftauchen kam Beatrice nach einer unruhigen Nacht ins Frühstückszimmer. Ihr Kiefer schmerzte immer noch, doch die Schwellung war schon zurückgegangen.
Sie trank ihren Kaffee, während sie aus dem Fenster sah und überlegte, was sie von Seths Erscheinen halten sollte. Nach seiner Konfrontation mit Onkel Wilhelm hatten sie sich nicht mehr gesehen. Er hatte gesagt, dass er nach New York reisen wolle, aber wann?
Die Tür zum Esszimmer ging auf.
«Edvard?» Sie war überrascht. «Mit dir hatte ich ja gar nicht gerechnet. Wo kommst du denn her?» Sie stand auf, und ihr Cousin und sie umarmten sich. Dann hielt Edvard sie auf Armeslänge von sich, und seine braunen Augen, die Sofias so ähnlich waren, strahlten sie an. Es war schon vorgekommen, dass Beatrice in Edvards Gesellschaft unbehaglich gewesen war, doch heute war sie nur froh, ihn zu sehen. Sofias Bruder gehörte zur Familie, und sie hatte nur noch so wenig Familie.
«Schön, dich zu sehen», sagte sie und brach in Tränen aus.
«Schhhh», machte er und nahm sie wieder in den Arm.
Zerstreut streichelte Edvard ihr über den Rücken. Hätte er die Wahl gehabt, dann hätte er natürlich niemals einen Fuß in diese Stadt gesetzt, doch dank der einflussreichen Familie von Wöhler saß er hier erst einmal auf unbestimmte Zeit fest.
Die überstürzte Abreise aus Stockholm war kaum etwas anderes gewesen als eine ehrlose Flucht, und er fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis seine liebe Mama bemerkte, dass die Leute ihre Briefe nicht mehr beantworteten. Wie lange es dauerte, bis Papa entdeckte, dass die Leute ihn mieden. Dass die Familie verstoßen war.
Er drückte die schluchzende Beatrice an die Brust und widerstand dem Impuls, seine Hände über ihren Rücken weiter nach unten gleiten zu lassen.
Wäre doch lustig, sie zu nehmen, einfach um Rosenschöld eins auszuwischen, dachte er und hätte beinahe losgelacht.
Beatrice schluchzte auf, und er sah gereizt auf sie herab. Dass sie ihm bloß nicht sein neues Hemd ruinierte.
Er murmelte tröstliche Worte, während er sich fragte, ob man wohl auf Sofias Tod hoffen durfte. Würde seine Schwester ins Gras beißen, wären seine Eltern abgelenkt, zumindest für ein paar Tage. Dann könnte sich die größte Aufregung bereits ein wenig gelegt haben.
Er runzelte die Stirn. Beatrice hatte angefangen, ihm einen Bericht von Sofias Krankheitsverlauf zu geben. Ach, zum Teufel – das war so unerträglich öde, dass er hätte schreien mögen. Verdammt, warum musste er bloß mit seiner erzlangweiligen Familie auf diesem Misthaufen festsitzen?
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