Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
Warum war das Leben so verdammt ungerecht?
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23
Göteborg
September 1881
Jesper Henriksson betrachtete seinen Arbeitgeber und versuchte, seine Frustration zu verbergen. In den fünf Jahren, die er nun für Seth Hammerstaal tätig war, hatte sich der Norweger noch nie so aufgeführt. Jesper räusperte sich vorsichtig. Doch Seth, der mit übereinandergelegten Beinen dasaß, starrte nur weiter in die Luft.
«Wollen wir vielleicht eine Mittagspause machen?», schlug Jesper schließlich vor.
In den letzten Tagen hatten sie sehr hart gearbeitet. Papiere, Menschen und Telegramme aus Stockholm und Umgebung strömten unablässig herein. Herr Hammerstaal schrieb, diktierte und arbeitete in seinem gewohnt furiosen Tempo, doch daran war Jesper gewöhnt, und er fühlte sich wohl in dieser Routine. Schwierigkeiten hatte er eher mit den irrationalen Stimmungen. Den Seufzern. Den seltsamen Pausen. Den starren Blicken.
«Bist du eigentlich verheiratet, Henriksson?», erkundigte sich der Norweger plötzlich.
Jesper lächelte bemüht und versuchte seine Verblüffung darüber zu verbergen, dass Herr Hammerstaal schon wieder vergessen hatte, was für eine großzügige Summe er ihm letzten Sommer zur Hochzeit geschenkt hatte.
«Seit einem knappen Jahr, Herr.»
«Hm.»
Es klopfte, und Jesper stand auf. Er war froh, etwas Konkretes zu tun zu haben. Der Besucher war ein blonder junger Mann, der sich als Herr Löwenström vorstellte.
Seth gab Edvard die Hand. Der Händedruck des jungen Mannes war fest und sein Lächeln warm, doch aus irgendeinem Grund begannen die Alarmglocken in Seths Kopf zu läuten.
«Hammerstaal, Johan hat mir schon erzählt, dass Sie in Göteborg sind. Wie stehen die Dinge?»
Seth bat Edvard, sich zu setzen. Er hegte wahrlich keine besonders herzlichen Gefühle für Johans Schwager, dachte er und betrachtete seinen lächelnden blonden Gast. Bis jetzt hatte Edvard vor allem den Eindruck gemacht, dass er ein Taugenichts von einem Oberklassenlümmel war, der rein gar nichts Vernünftiges leistete. Doch als er jetzt das nächste gewinnende Lächeln aufsetzte, witterte Seth Unheil.
«Ich nehme an, ich kann genauso gut gleich zum Thema kommen. Es geht um meine Familie», erklärte Edvard.
«Beatrice? Ist ihr etwas passiert?» Seth konnte die Sorge in seiner Stimme kaum verbergen.
Edvard verzog keine Miene, doch in seinen Augen glänzte etwas auf. «Überhaupt nicht. Ich selbst bin in eine delikate Klemme geraten und will Papa nicht um Hilfe bitten.» Er lächelte. «Man will ja nicht so aussehen, als würde man nicht allein zurechtkommen, und Johan hat genug mit seinen eigenen Problemen zu tun. Da Sie Johans Freund sind, dachte ich, sie könnten vielleicht so großzügig sein, einem Kameraden beizustehen. Von Mann zu Mann, sozusagen.»
Seth entspannte sich. Es ging also um Geld, das hätte er sich ja gleich denken können. Wenn jemand ihn um etwas bat, ging es immer um Geld. Er gab Henriksson mit einer Geste zu verstehen, dass er sie allein lassen sollte.
«Wie viel brauchen Sie?»
«Ein paar hundert sollten reichen», sagte Edvard gewandt.
Seth streckte die Hand nach seinem Scheckheft aus. Der Mann war Johans Schwager, und wenn Seth etwas für Johan tun konnte, wollte er es gerne tun. Doch irgendetwas störte ihn an der Sache. «Wenn Sie in Zukunft Geld brauchen sollten, kann ich Ihnen sicher eine Arbeit beschaffen.»
Edvard lächelte ausdruckslos, steckte den Scheck ein und verabschiedete sich.
Als er das Zimmer verließ, blieb Seth sitzen und kratzte sich den Nacken. «Henriksson, komm wieder rein», rief er, und der Sekretär erschien sofort wie aus dem Boden gewachsen.
«Schick jemand nach Stockholm, ich will Informationen über Edvard Löwenström.»
«Ja, Herr. Welche Art von Information?»
Seth lehnte sich zurück und sah ihn nachdenklich an. «Wir lassen es einfach mal auf uns zukommen …» Er verstummte.
«Herr?»
«Sieh zu, dass man auch etwas über Wilhelm Löwenström herausfindet», fügte Seth hinzu.
Am selben Abend ließ sich Johan mit einem zufriedenen Stöhnen im besten Herrenclub von Göteborg, dem Royal Bachelors Club, in einen Sessel sinken. «Danke, dass du mich mitgenommen hast», sagte er zu Seth. «Zu Hause werde ich allmählich wirklich verrückt.» Er nahm einen Cognacschwenker von einem Kellner entgegen. «Ich schäme mich, Beatrice mit der ganzen Verantwortung allein zu lassen, aber ich musste einfach für eine Weile da rauskommen», fuhr er
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