Ein unmoralischer Handel
sich ihre Familie prächtig, aß und lachte, doch sie war so in Gedanken versunken, dass sie das alles kaum wahrnahm. Sie nahm ihren Toast, biss hinein und kam - während sie geräuschvoll kaute - zu dem Schluss, ihm zumindest zum Schein zu erlauben, den Anführer zu spielen. Sein Selbstverständnis als Cynster würde sich nicht mit weniger begnügen; sich dagegen zu wehren wäre so aussichtslos, wie mit dem Kopf durch die Wand zu wollen. Das musste jedoch nicht bedeuten, ihm wirklich alle Entscheidungen zu überlassen, es reichte, wenn er diesen Eindruck hatte. Was sie zu der Frage brachte, wie sie verhindern könnte, dass er einfach weitermachte, ohne sie zu informieren.
Sie würde sich regelmäßig mit ihm treffen müssen, eine Aussicht, die sie nervös werden ließ. Ihr nächster Schritt musste logischerweise darin bestehen, das nächste Treffen mit ihm in die Wege zu leiten, aber sie hatte sich ja noch nicht einmal von dem letzten richtig erholt. Als sie ihn dazu verlockt hatte, ihr zu Hilfe zu kommen, hatte sie fest mit seiner angeborenen Ritterlichkeit gerechnet - nicht in ihren kühnsten Träumen wäre sie auf die Idee gekommen, dass er so versessen auf eine Belohnung sein könnte.
Allein schon das Wort war ihr für immer ins Gedächtnis eingebrannt, es weckte in ihr sogleich die Vorstellung von etwas Verbotenem. Es war aufregend, erregend, verlockend - verführerisch.
Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf, ihr stockte der Atem. Wenn sie nur an den Moment dachte, als er mit seiner typischen Anmaßung seine Lippen auf die ihren gedrückt hatte, wurde ihr immer noch ganz schwindelig. Sich an das zu erinnern, was danach gekommen war, trieb ihr die Röte in die Wangen.
Sie rief sich zur Ordnung und verscheuchte die Bilder aus ihrem Geist wie auch die Erinnerung an ihre Gefühle. Sofern das überhaupt möglich war, denn Letztere waren noch viel schlimmer. Sie hob ihre Teetasse an, nahm ein Schlückchen und betete, dass niemand ihr Erröten bemerken würde. In den letzten fünf Jahren war sie niemals rot geworden, wahrscheinlich nicht einmal in den letzten zehn. Wenn sie jetzt plötzlich aus heiterem Himmel puterrot wurde, würde das Fragen aufwerfen - und Spekulationen Tür und Tor öffnen. Und das war das Allerletzte, was sie gebrauchen konnte.
Während sie gnadenlos alle Erinnerungen an die Fahrt zu seinem Haus verdrängte, kam sie zu dem Schluss, dass sie sich nichts vorzuwerfen hatte; sie hätte es nicht verhindern können - nichts von all dem -, ohne ihn misstrauisch zu machen. Es brachte nichts, weiter darüber nachzudenken, abgesehen davon, dass sie ihrem Schutzengel aus tiefstem Herzen dankbar sein musste - denn fast hätte sie seinen Namen herausgestammelt, als er sie freigegeben hatte. »Rupert« war es ihr schon auf der Zunge gelegen, doch sie hatte es im letzten Augenblick noch geschafft, das Wort herunterzuschlucken. Hätte sie seinen Namen gesagt, wäre ihre Scharade augenblicklich zu Ende gewesen; sie war die einzige Frau, die jünger war als seine Mutter, die ihn noch bei seinem wirklichen Namen nannte. Das hatte er ihr selbst erzählt.
Warum sie darauf beharrte, wusste sie selbst nicht - es war, als klammere sie sich auf diese Weise an eine längst vergangene Zeit, in der alles einfacher gewesen war. Sie hatte schon immer an ihn als ›Rupert‹ gedacht.
Ich heiße Gabriel.
Seine Worte hallten in ihrem Geist wider. Sie schaute aus dem Fenster und grübelte; er hatte Recht - jetzt war er Gabriel, nicht Rupert. Gabriel enthielt das Kind, den Jungen, den Mann, den sie als Rupert kannte, doch er beinhaltete noch mehr. Mehr Tiefe, mehr Erfahrung - mehr Vorbehalte.
Kurz darauf schüttelte sie sich innerlich und trank ihren Tee aus. Als die Gräfin würde sie daran denken müssen, ihn Gabriel zu nennen, während er für Alathea weiterhin Rupert blieb.
Und sie würde einen Weg finden müssen, um die Belohnungen in Grenzen zu halten, die Gabriel sicher noch fordern würde.
»Ich denke, wir sollten am Vormittag bei Lady Hertford vorbeischauen.« Serena hatte die Einladungen des heutigen Tages durchgesehen und schaute Mary und Alice nachdenklich an. »Sie gibt einen formlosen Empfang. Wenn ihr diese Kleider anziehen möchtet, die gestern geliefert wurden, dann wäre das eine sinnvolle Gelegenheit, sich dort in den Sachen sehen zu lassen.«
»O ja«, rief Mary aus. »Lass uns gleich anfangen!«
»Werden denn auch andere junge Damen dort sein?«, fragte Alice.
»Natürlich.« Serena wandte sich
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