Ein unmoralisches Angebot
fragte sie sich, wie sie diese Art Ehe ertragen solle, da sie Guy noch immer liebte. Sie wusste zweifelsfrei, dass sie ihn schon verloren hatte, ehe der Ehebund überhaupt geschlossen worden war.
Am folgenden Vormittag fuhr man nach Woodallan ab. Olivia ging es gut genug, um reisen zu können, und ihre Adoptivmutter hatte sich ebenfalls hinreichend erholt, um der kurzen Fahrt mit Gleichmut entgegensehen zu können. Man kam langsam voran, da die Straßen vereist und voller Schlaglöcher waren, doch schließlich rollte die Kutsche durch das Parktor vor das Hauptportal, und dankbar stieg man aus.
Dieses Mal gab es keinen großen Empfang. Nur die Countess of Woodallan stand wartend in der holzgetäfelten Halle und sah beinahe so nervös aus wie ihre Gäste. An der Herzlichkeit ihres Willkommensgrußes war jedoch nichts auszusetzen. Mit Tränen in den Augen umarmte sie Olivia und begrüßte dann sehr herzlich Miss Sheridan. Einen Moment später kamen Lord Renshaws zwei Schwestern mit ihren Familien in die Halle, und die Spannung ließ beträchtlich nach. Niemand äußerte sich dazu, dass der Earl nirgendwo zu sehen war, doch Sarah bemerkte, dass der Viscount seine Mutter beiseitenahm und kurz mit ihr redete, ehe er dann den Korridor zum Arbeitszimmer des Vaters hinunterging.
Für Sarah zog der Tag sich endlos hin. Nur Guy und sein Vater fehlten, als man sich vor dem Essen im Salon versammelte. Nach einiger Zeit wurde schwungvoll die Tür geöffnet, und der Earl kam in den Raum, sich schwer auf den Arm seines Sohnes stützend, in der anderen Hand einen Spazierstock mit goldenem Knauf.
Er entschuldigte sich dafür, dass er bei der Ankunft der Gäste gefehlt hatte, und bat dann Miss Meredith zu sich.
Die anderen Anwesenden schienen den Atem anzuhalten. Mrs. Meredith gab Olivia einen kleinen Stoß. Sie ging zu ihrem Großvater, der sie prüfend anschaute.
„Du bist das Ebenbild deiner Mutter“, stellte er fest. „Du bist mir hier sehr willkommen, meine Liebe.“
Die anderen Anwesenden seufzten gleichzeitig vor Erleichterung, und in Olivias Augen erschien ein Strahlen. Der Earl reichte seiner Enkelin den Arm und führte sie ins Speisezimmer. Greville ging zum Freund und klopfte ihm auf den Rücken.
„Gut gemacht, Guy! Ich wusste, du schaffst das!“
Lord Lebeter schüttelte Renshaw die Hand, und Mrs. Meredith wischte sich eine Träne aus dem Auge. Die Countess lächelte und redete gedämpft auf sie ein. Amelia ging zu Sarah und legte den Arm um sie. „Oh, Sarah! War das nicht wunderbar? Ich kann es kaum glauben, dass wir alle jetzt eine große Familie sind! Ist das nicht außerordentlich?“
Sarah lächelte strahlend. „Oh, es ist entzückend! Ich bin so glücklich für Olivia! Die Dinge haben sich besser entwickelt, als ich gedacht habe!“
„Für uns alle!“, sagte Amelia und schenkte Sir Greville, als er auf sie zukam, um sie ins Speisezimmer zu bringen, ein hinreißendes Lächeln.
Sinkenden Herzens sah Sarah, dass die Countess ihren Sohn anwies, sie zum Essen zu begleiten. Er näherte sich ihr und verneigte sich knapp.
„Meine Mutter möchte, dass ich Sie zu Tisch begleite.“
„Das gehört sich so, da wir verlobt sind!“ Leicht legte sie die Hand in seine Armbeuge. „Kommen Sie! Wir wollen die anderen nicht warten lassen!“
Beim Essen schenkte Guy ihr nicht sehr viel Aufmerksamkeit. Sie war sich bewusst, dass die Countess und Amelia bemerkt hatten, wie sehr Guy sie vernachlässigte, und ihr verwunderte Blicke zuwarfen. Es war unvermeidlich, dass sich im Verlauf des Essens das Gespräch der bevorstehenden Trauung zuwandte.
„Sie müssen erfreut gewesen sein, Miss Sheridan“, sagte die Countess strahlend, „als Sie feststellten, dass die Hochzeit so schnell stattfinden kann. Erst Olivias Ankunft, dann das Weihnachtsfest und dazu noch zwei Hochzeiten in der Familie! Wir werden uns großartig amüsieren!“
„Es wird unglaublich aufregend sein!“, platzte Sarah heraus.
Guy warf ihr einen vielsagenden Blick zu. Sie fühlte sich seltsam beschwingt, ganz so, als hätte sie zu viel Wein getrunken. Sie war vielleicht nicht imstande, ihren zukünftigen Mann dazu zu bringen, sie zu lieben, aber ärgern konnte sie ihn bestimmt. Sie wusste, seine gerunzelte Stirn und das Getrommel mit den Fingerspitzen auf dem Tisch bedeuteten, dass es ihr gelungen war, die Mauer der Gleichgültigkeit, die er um sich errichtet hatte, zu durchbrechen.
Nach dem Essen gesellten die Herren sich bald zu den Damen.
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