Ein unmoralisches Sonderangebot - Gier, K: Unmoralisches Sonderangebot
was Stephan bei Evelyns Anblick empfunden hatte, schlief ich ein. Manchmal ist das das Beste, das man tun kann.
Ver
schlafen allerdings ist dagegen nicht empfehlenswert. Mitten in einem angenehmen Traum, in dem sprechende Buchsbäume vorkamen, wusste ich plötzlich, dass ich verschlafen hatte. Und ohne den Buchsbäumen auf Wiedersehen zu sagen, riss ich die Augen auf und griff nach der Armbanduhr, die auf dem Boden neben der Couch lag.
»Mist, Mist, Mist!«, rief ich. Ich hatte mich zu sehr aufmeinen inneren Wecker verlassen, der mich noch jedes Mal bei Tagesanbruch geweckt hatte. Im Winter spät, im Sommer früh – wie ein Hahn, sagte Stephan immer. Ich war eben ein Naturkind, nur hier in der Stadt funktionierte es offenbar nicht. Es war acht Uhr durch, und von der Straße unten war der Lärm des Berufsverkehr zu hören. Dabei wollte ich heute das erste Mal die Busverbindung zur Gärtnerei ausprobieren, einmal umsteigen und zehn Minuten stramm marschieren – ich würde heillos zu spät kommen. Die Abfahrtszeiten, die ich mir mühsam aus dem Fahrplan zusammengesucht hatte, hatte ich bereits verpasst.
Auf der Suche nach kaltem Wasser, das mir den Kopf klar machen würde, wankte ich mit meinem viel zu engen »Ich bin dreißig – bitte helfen Sie mir über die Straße«-T-Shirt ins Bad. Dort ließ ich mich als Erstes auf dem Toilettensitz nieder.
»Du dumme Pute hättest doch einen Wecker stellen können«, sagte ich zu mir selber.
Genau in diesem Augenblick öffneten sich die Türen der Duschkabine, und ein nackter Mann kam heraus.
»Aaaaaaaaargh!« Ich schrie vor Schreck wie am Spieß. Nicht nur, dass ich mich allein in der Wohnung gewähnt hatte, nein, ich saß auch noch auf dem Klo, die Unterhose um meine Fußgelenke schlabbernd! In solchen Momenten begegnet man ungern nackten Männern, nicht mal so gut gebauten wie diesem Exemplar. Immer noch schreiend wie in »Psycho« schaute ich an langen, muskulösen Beinen hinauf bis zu einer ziemlich behaarten, breiten Brust. Du liebe Güte …
»Hmpf«, machte ich, weil mir endlich die Luft ausgegangen war.
»Ich bin’s doch nur«, sagte der nackte Mann, der nur halb so erschrocken aussah wie ich. Es war natürlich Oliver, wer sonst.
Ich beeilte mich, von der Kloschüssel aufzuspringen und die Unterhose wieder anzuziehen. Es war ausgerechnet so ein unmögliches Exemplar mit Blümchen.
»Du … du …«, stotterte ich. »Ich … ich …« Ich benahm mich wie eine Klosterschülerin, die das erste Mal einen nackten Mann gesehen hatte. Am liebsten hätte ich mich selbst geohrfeigt. »Ich wusste nicht, dass du hier drin bist.«
»Tut mir Leid, ich hätte abschließen sollen«, sagte Oliver. Er hatte sich ein Handtuch gegriffen und frottierte sich damit in aller Seelenruhe ab. Der Mann hatte vielleicht Nerven.
Ich guckte angelegentlich auf die Marmorfliesen. »Ich habe verschlafen, du auch?«
»Nein«, sagte Oliver. »Ich muss erst um zehn im Sender sein.« Er war jetzt trocken. Aber anstatt sich das Handtuch züchtig um die Hüften zu binden, warf er es über den Badewannenrand und begann, sich Rasierschaum ins Gesicht zu schmieren. Ja, gab es das denn heute noch? Ein Mann unter siebzig, der sich nass rasierte? Nass und nackt.
Ich starrte wieder auf den Boden, während ich an das freie Waschbecken trat und mit dem Zähneputzen begann. Am liebsten hätte ich natürlich schamvoll den Raum verlassen, aber das wäre dann der Gipfel der Uncoolness gewesen.
»Der erste Bus ist schon weg«, sagte ich. Warum nur klang meine Stimme so zittrig? »Ich werde heillos zu spät kommen.«
»Glücklicherweise bist du ja selber die Chefin«, sagte Oliver. »Aber du kannst den Citroen haben, wenn du willst. Ich fahr dann mit der U-Bahn.«
»Das wäre vielleicht keine schlechte Idee.« Vor lauter Anstrengung, meine Stimme normal klingen zu lassen, entglitt die Zahnpastatube meinen Händen und fiel ins Waschbecken. Allmählich wurde ich wütend auf mich. Herrje, jetzt reiß dich aber mal zusammen! Es ist schließlich nur ein nackter Mann, verdammt noch mal. Nur
Oliver
. Der gute alte Blumenkohl. Es ist
nicht
schlimm, dass er dich beim Pipimachen überrascht hat. Das ist schließlich die normalste Sache der Welt.
Aber es war doch schlimm.
Nicht mal Stephan hatte mich jemals auf dem Klo sitzen sehen. Sich von jemandem dabei erwischen zu lassen gehörte zu den zehn Todsünden meiner Erziehung. Meine Pflegemutter glaubte, dass es für Menschen, die ungeniert in aller
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