Ein unsittliches Angebot (German Edition)
und drehte sich halb zu ihm um. »Kommst du heute Abend wieder?«
»Ich hatte eigentlich nicht vor, zu gehen.« Er lehnte sich vor und griff nach seinem rechten Stiefel. »Ich erinnere mich, dass dieses Sofa der perfekte Ort für ein Nickerchen ist. Miss Sheridan, würden Sie jemanden schicken, mich zu wecken, falls ich Mrs Russells Zubettgehzeit verschlafen sollte?«
Das Mädchen erhob sich und knickste. »Mrs Ware hat gesagt, Sie können in die Küche kommen, falls Sie zum Abendessen noch hier sind. Sie legt Ihnen was zurück.«
»Ah, Mrs Ware. Hervorragend.« Er zog den zweiten Stiefel aus und legte beide Füße aufs Sofa. Die Witwe starrte ihn an, zweifellos überrascht davon, dass er ihre Köchin beim Namen kannte. »Würden Sie wieder eine Kerze brennen lassen? Das war letzte Nacht recht hilfreich.« Sie nickte, und die Damen gingen.
Mr Mirkwood musste in der Nacht gekommen sein – die Kerze war gelöscht worden –, doch als sie aufwachte, war er nicht mehr da, so wie an den anderen beiden Tagen.
Ein Jammer, denn sie war mit einer Idee aufgewacht, die er ihr in den Kopf gesetzt hatte. Du hast mehr Verbündete, als du weißt , hatte er gesagt. Was, wenn sie sie zu Hilfe riefe? Auch andere Leute würden sich vielleicht für das Schicksal von Seton Park interessieren, wenn man ihnen die Gelegenheit gab. Oder für die Sicherheit ehrbarer Frauen. Auch anderen Leuten war Gerechtigkeit vielleicht nicht egal. Vielleicht würden sie einspringen, wenn ihre eigene Entschlossenheit ins Wanken geriet, und für sie weiterkämpfen. Ein Zusammenschluss von vielen solchen Leuten, sie selbst unter ihnen, würde vielleicht mehr erreichen, als sie allein.
Sie würde zu Ende bringen, was sie angefangen hatte, mit allen Mitteln, die dazu nötig waren. Wenn sie den Söhnen unrecht tat … Nein, sie würde den Söhnen auf jeden Fall unrecht tun. Aber für Schuldgefühle war immer noch genug Zeit, wenn sich Seton Park in Sicherheit befand.
An diesem Vormittag setzte sie sich in die Bibliothek und schrieb. An den vornehmen Mr Rivers und seine Frau schrieb sie, und an die geselligen Tavistocks. An den pflichtbewussten Mr Keene und den großmütigen Mr Granville und an die drei verständigen Damen in der Stadt. Die Worte, anfangs so unangenehm, wurden mit der Übung leichter: Ich brauche Ihre Hilfe . Bitte verzeihen Sie, dass ich ein solches Thema anschneide …
Und als die Briefe alle abgeschickt waren, machte sie ein paar Besuche.
»Ich hatte ja keine Ahnung.« Mr Atkins hatte soeben den Unterricht beendet; jetzt saß er auf der Kante seines Schreibtischs und zerknüllte abwesend ein Blatt Papier, das er gerade in der Hand gehabt hatte, als sie zu sprechen begonnen hatte. »Nicht die leiseste Ahnung. Sie?«
»Ich habe es erst kürzlich erfahren. Wir waren beide ahnungslos.« Martha saß ihm in der ersten Reihe gegenüber. Sie waren gleichermaßen ahnungslos gewesen. Es lag auf der Hand, dass sie sich verbünden mussten. Warum hatte sie ihn nicht längst um Hilfe gebeten? »Ich bin der Ansicht, dass diese Geheimhaltung seinen Verbrechen nur Vorschub leistet und ihn vor dem Tadel schützt, den er verdient. Ich gedenke, sie zu beenden.«
»Allerdings. Sie können sich auf meine Unterstützung verlassen.« Seine Augenbrauen stellten sich schräg. »Aber Mrs Weaver wird nicht namentlich erwähnt werden, hoffe ich doch? Für ihre Kinder, insbesondere für Christine, wäre Unwissenheit gewiss der barmherzigere Weg.« Wie schnell er zum Beschützer seiner Schüler geworden war, sogar derer, die nicht in seine Kirche kamen.
»Mein Gefühl sagt dasselbe.« Sie verschränkte die Arme. »Aber diese Entscheidung werde ich Mrs Weaver selbst überlassen.«
Wenigstens würden diese durchwachten Nächte ihn wieder auf seinen Londoner Lebenswandel vorbereiten. Wenn Mr James Russell allerdings noch viel länger blieb, würde er Granville erklären müssen, weshalb er so lange schlief und abends nicht auffindbar war.
Theo warf einen Blick auf die Uhr im Ankleidezimmer. Halb drei. Eine respektable Zeit für die meisten Unterfangen. Er hatte gerade seine Krawatte gebunden und an Frühstück gedacht, als ein Diener ihm eine Karte brachte, die er auf den Tag genau vor sechs Wochen das erste Mal gesehen hatte. Schlichte schwarze Buchstaben auf Weiß, kein Rahmen. Kein Hinweis auf die Besitzerin, außer ihrem Namen.
Sie saß in seinem Vorzimmer, auf dem unbequemsten Stuhl. Ihre behandschuhten Hände lagen, die eine auf der anderen, in ihrem
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