Ein unverschaemt charmanter Getleman
auf. Er war seiner selbst nicht gar so gewiss, wie es schien.
Nicht nur in dieser Hinsicht hatte sie ihn falsch eingeschätzt. Sein Unbehagen bei der Erwähnung seiner kriegerischen Heldentaten ging über die übliche schickliche Bescheidenheit hinaus, die man so gerne vortäuschte - oder auch nicht. Es bereitete ihm wirklich Unbehagen, sodass Mirabel nicht umhinkam, sich zu fragen, was ihm so unangenehm sei. Sie wünschte, er würde es ihr erzählen, damit sie ihm seine Bedenken nehmen könne.
Zudem war ihr aufgefallen, dass er trotz aller Eitelkeit hinsichtlich seiner äußeren Erscheinung keineswegs zufrieden war mit sich.
Zu diesem Schluss war sie allerdings nicht erst gelangt, als er davon zu reden begonnen hatte, sich bessern zu wollen. Schließlich versprachen Männer, vor allem unverbesserliche Wüstlinge und andere Taugenichtse, Frauen meist, sich zu bessern, wenn sie sie besänftigen wollten. Selbst Papa machte das, ungefähr zweimal im Jahr und mit den besten Absichten -welche er jedoch wieder vergessen hatte, sobald das nächste botanische Rätsel seines Weges kam.
Nein, nicht dieses Gerede davon, sich bessern zu wollen, hatte sie zu dem Schluss gelangen lassen, sondern der beunruhigte Ausdruck in Mr. Carsingtons Augen und der veränderte Tonfall seiner Stimme, als er von seinem Vater gesprochen hatte. In seiner Stimme war ein Unterton gewesen, der sie schmerzlich berührt hatte. Derlei Frustration kam ihr nur allzu bekannt vor: ein Gefühl des Versagens, ganz gleich, was man tat, und das Bewusstsein einer klaffenden, nicht mehr zu schließenden Lücke, die sich inmitten des eigenen Lebens auftat.
„Ich kann übrigens zur selben Zeit laufen und sprechen“, ließ sich Mr. Carsingtons tief brummende Stimme dicht hinter ihr vernehmen.
Als Mirabel sich nach ihm umdrehte, bemerkte sie, dass er sogar sehr dicht hinter ihr lief. „Ich denke nach“, erwiderte sie entschieden.
„Aber Frauen sind doch nicht umsonst viel komplexere Wesen als Männer“, ließ er nicht locker. „Ich bin überzeugt davon, dass Sie über mehr als eine Sache zur selben Zeit nachdenken können - weshalb Sie sicherlich auch gleichzeitig laufen und sprechen können.“
„Ich hatte mir gerade überlegt, ob Sie Ihren gelangweilten Gesichtsausdruck wohl vor dem Spiegel einstudieren“, sagte sie. „Sie beherrschen ihn so unglaublich gut, dass ich in der Tat befürchtet habe, Sie könnten jederzeit einschlafen und von Ihrem Pferd fallen. Doch da Sie ja bereits Mr. Fareys Buch gelesen haben, muss alles, was ich Ihnen über Longledge Hill zu erzählen hatte, Ihnen tatsächlich wie eine langweilige Wiederholung vorgekommen sein.“
„Ich meinte auch gar nicht das, was Sie über Anbaumethoden zu erzählen wussten“, entgegnete er. „Über die Landwirtschaft in Derbyshire habe ich unlängst so viel gelesen, dass ich mir am liebsten einen Strick genommen hätte. Sie sind es, die ich interessant finde.“
Mirabels Herz drehte sich einmal rasch um sich selbst. „Ich bin eine Landwirtin“, meinte sie dann ganz ruhig. „Daran ist nichts, was auch nur im Geringsten interessant wäre.“
„Warum überlassen Sie es nicht Ihrem Verwalter Higgins, das Anwesen zu führen?“, wollte er wissen. „Warum lassen Sie ihn nicht die Arbeit verrichten, für die Sie ihn angestellt haben, derweil Sie nach London gehen und sich amüsieren? Sollte Sie der gesellschaftliche Trubel als gar zu frivol anmuten, so werden Sie dort Dutzende anderer intellektuell gesinnter Damen finden, mit denen Sie sich unterhalten und Vorträge besuchen können.“
Mirabel erinnerte sich an die Freuden, die London zu bieten hatte, und ihr wurde recht wehmütig zumute. Tante Clothilde drängte sie stets, auf einen Besuch zu kommen. Eines Tages, sagte Mirabel sich, würde sie es tun - vielleicht. Aber noch nicht. Ganz sicher nicht jetzt, wo alles in Gefahr war, das ihr etwas bedeutete.
„Sie sind zu gütig“, erwiderte sie. „Ich wünsche Sie fort bis nach Kalkutta. Und Sie wünschen sich mich nur nach London.“
„Sie sind meinen Fragen nun schon zweimal ausgewichen, was meine Neugier natürlich sogleich verdoppelt. Haben Sie hier einen Geliebten?“
Einen Geliebten? War das sein Ernst?
Mirabel blieb unvermittelt stehen. Er trat ihr auf die Ferse, und ihr Fuß rutschte auf dem nassen Gestein aus. Sie schwankte, taumelte nach hinten und ruderte mit den Armen, um nicht ganz das Gleichgewicht zu verlieren. Rasch griff er sie um die Taille und richtete sie
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