Ein unversoehnliches Herz
skeptisch. Mitten im Gespräch krachte es in einem Bücherschrank, und Jung erklärte daraufhin mit sanfter Stimme, dies sei ein sogenanntes katalytisches Exteriorisationsphänomen gewesen.
»Niemals«, erwiderte Freud, »das liegt nur an der Trockenheit des Holzes, der Schrank ist alt und kürzlich umgestellt worden.«
»Tatsache ist«, konstatierte Jung mit gleichbleibend sanfter Stimme, »dass ich das Geräusch hervorgerufen habe. Unmittelbar bevor es krachte, spürte ich, dass mein Unterleib aus glühendem Eisen war. Dies löste die Reaktion des Schranks aus.«
Freud saß lange da und kraulte sich mit abwesendem Blick den Bart. Schließlich zündete er seine Zigarre wieder an, die im Aschenbecher erloschen war. Als er den ersten Zug nahm, knallte es im selben Moment erneut im Bücherschrank.
Die Episode ereignete sich 1909, und die Differenzen der beiden hatten gerade erst begonnen. Im September 1913, beim Vierten Internationalen Psychoanalytischen Kongress in München, war die Situation unhaltbar geworden. Trotzdem war Jung Vorsitzender des Kongresses, wogegen sich Freud mit allen möglichen Winkelzügen gewehrt hatte. Es war mit bloßem Auge zu erkennen, wer die Anhänger Jungs waren und wer auf Seiten Freuds stand. Freud erkannte, selbst wenn die Schlacht um die Bewegung nicht verloren sein musste, so war doch die arglose Zeit mit Ärzten und Wissenschaftlern, die einmütig in die gleiche Richtung strebten, ein abgeschlossenes Kapitel. Um das Übel im Keim zu ersticken, hatte er bereits die Arbeit an seinem Buch Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung aufgenommen, in dem er mit seinen Gegnern abrechnete und sich zum alleinigen Begründer und Verwalter der neuen Wissenschaft ausrief.
Auch Poul hatte Freuds und Jungs Differenzen zu spüren bekommen. Außerdem war ihm bewusst, dass sein eigener Durchbruch in der Bewegung zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden führenden Vertretern geführt hatte. Als sein Artikel über Paranoia im Psychoanalytischen Jahrbuch veröffentlicht werden sollte, zeigte sich deutlich, dass Jung und Freud sich über die wissenschaftliche Grundlage des Textes stritten. Freud hatte seine Zweifel, gab aber schließlich nach; Jung hatte gewisse formale Einwände und beklagte sich, so viel Zeit darauf verwenden zu müssen, den Text zu redigieren.
Poul weigerte sich jedoch, ihren Änderungswünschen nachzukommen. Freud wollte, dass das Sexualleben des Patienten eingehender analysiert wurde, und Jung meinte, Poul habe die homosexuelle Komponente unterschätzt. Poul zufolge war es unmöglich, die Paranoia mit verdrängter Homosexualität in Verbindung zu bringen, nur weil sich zwei Frauen zueinander hingezogen fühlten, die in seiner Studie eine gewisse Bedeutung hatten.
Er fand das viel zu oberflächlich, außerdem ging es dabei viel zu wenig um die Genesung von Patienten. Seiner Meinung nach galt es vielmehr, den Willen zu heilen in den Vordergrund zu stellen. Er widersetzte sich der Vorstellung, dass die Paranoia unheilbar sein sollte, wie allgemein angenommen wurde. Er als Arzt fand die gängige Praxis der Bewegung, zu analysieren und die Menschen anschließend im Stich zu lassen, unbegreiflich.
Er beharrte darauf: Nach seiner vierzig Gespräche umfassenden Behandlung konnte sein Patient als geheilt betrachtet werden.
In seinem Text betonte er die Bedeutung von Vertrauen, man musste einen Menschen, der sich daran gewöhnt hatte, andere Menschen als Feinde zu betrachten, dahin führen, Zutrauen zu empfinden. Hatte man dieses Vertrauen erst einmal aufgebaut, konnte man die entscheidenden Fragen stellen, einen anderen Blickwinkel erreichen – und schließlich das gesamte paranoide System unterminieren.
Es ging kurz gesagt darum, den Patienten zu lehren, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Auf die Art wurde es möglich, eine Art Paradigmenwechsel einzuleiten, bei welcher der Intellekt das Gefühlsleben bestimmte.
In seinen Augen herrschte im engsten Kreis der psychoanalytischen Bewegung jedoch eine so vollständige Fixierung auf die Triebe, dass es keinerlei Spielraum für konkrete Arbeitsweisen und Behandlungsmethoden gab.
Drei Jahre waren vergangen, seit er seinen Artikel geschrieben hatte, und er fand noch immer, dass die gesamte Bewegung im gleichen beengten Verschlag auf der Stelle trat. Davon war er fest überzeugt, was dazu geführt hatte, dass er sich seiner Rolle als einer der engsten Vertrauten Freuds nicht mehr sicher sein konnte. Er war zwar
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