Ein unversoehnliches Herz
darum, die Tür geschlossen zu halten – sah sie, dass alle das frisch vermählte Paar mit huldigenden Chören und Gesängen feierten. Aber die frisch Vermählten kehrten ihr den Rücken zu, sie konnte nicht sehen, wer die beiden waren. Dann drehte sich die Braut um, und sie erblickte Lou Salomés falsches Lächeln. Es brannte sich ihr ein, die grausigen Zähne, als wäre Lou jederzeit bereit, sie zu zerfleischen.
Und dann sah sie Poul den Arm um diese Frau legen. Im nächsten Moment wurde ihr mit einem lauten Knall die Tür vor der Nase zugeschlagen.
Doch als Gunhild jetzt am Flügel saß, dachte sie nicht nur an Lou Salomé, sondern auch an den seltsamen Brief, den Amelie ihr am Tag nach Pouls Abreise zum Münchener Kongress geschickt hatte. Liebe Mutter, hatte sie geschrieben, kannst Du mir den Gefallen tun, Andreas Poul abholen zu lassen, wenn er nach Hause kommt?
Das war der ganze Wortlaut gewesen.
Natürlich hatte sie erfahren wollen, warum es so wichtig war, dass Andreas sich mit Poul traf, sobald dieser im Bahnhof ankam. Jeder wusste doch, dass sie Poul immer abholte, wenn er von einer längeren Reise heimkehrte, und erst recht, wenn es ihr so gut ging. Poul würde sich Sorgen machen, was sie in einem Brief an Amelie nachdrücklich unterstrich.
Aber sie hatte nie eine Antwort auf ihre Frage bekommen, was eigentlich so eilte, und nun dachte sie darüber nach, welch eine seltsame Bitte Amelies es gewesen war. Sie und Andreas waren geschieden, trotzdem brachte sie sein Anliegen vor. Wenn Amelie ihr doch nur geantwortet und ihr erklärt hätte, warum es so wichtig war, dass Andreas sich mit Poul traf. Stattdessen blieb alles rätselhaft und verzwickt.
Amelie und Andreas. Gunhild fand es schrecklich, dass es so furchtbar hatte enden müssen. Es hatte doch so vielversprechend begonnen. Außerdem hatte sich zwischen Gunhild und Amelie eine ganz neue Vertrautheit entwickelt, nachdem Amelie sich bis über beide Ohren in Andreas verliebt hatte. Sie ließen ihre frühere Mutter-Tochter-Beziehung hinter sich und wurden Freundinnen und Vertraute.
Im Grunde war Amelie die Erste gewesen, die Gunhilds Schönheit bemerkt hatte. »Du bist schön, Mutter, und du scheinst die Einzige zu sein, die sich weigert, das einzusehen.«
Das sagte sie, Amelie. Die süße, liebe, kleine Amelie.
Plötzlich stand sie auf und blieb neben dem Flügel stehen.
Sie hatte sich entschieden, musste sich aber trotzdem an dem Instrument festhalten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Der schnelle Entschluss schien sie selbst zu überrumpeln.
Sie wusste nicht genau, was den Ausschlag gegeben hatte. Wahrscheinlich einer der vielen Gedanken, die ihr durch den Kopf gegangen waren, als sie am Flügel saß, ohne spielen zu können. Aber sie wusste nicht zu sagen, welcher Gedanke genau die Entscheidung herbeigeführt hatte.
Sie warf einen Blick auf die Wanduhr, schlug das Notenheft zu und stellte es in den Schrank zurück. Die Noten standen alphabetisch geordnet in einer Reihe. Nichts war ärgerlicher als Gäste zu haben, etwas Passendes singen zu wollen und dann die richtigen Noten nicht zu finden. Es galt, alles an der korrekten Stelle einzusortieren, sonst musste man später für seine Nachlässigkeit büßen, das hatte sie schon früh lernen müssen.
Sie eilte in die Kleiderkammer, wählte eine Jacke aus und achtete dabei sorgsam darauf, eine diskrete und dunkle auszuwählen. Sollte sie einen Sonnenschirm mitnehmen? Ja, das wäre sicher besser. Sie steckte sich mit ein paar Nadeln die Haare hoch. In der Zeitung hatte sie gelesen, dass Haarnadeln in Straßenbahnen verboten werden sollten. Offenbar waren einige empfindliche Herren im Gedränge von ihnen gepiekst worden. Einfacher wäre es, dachte sie, wenn sie lernen würden, respektvoll Abstand zu halten.
Sie hatte ohnehin keine Zeit, die Straßenbahn zu nehmen, denn wenn sie rechtzeitig dort sein wollte, musste sie sich ein Taxi bestellen. Als Letztes setzte sie sich einen kleinen Hut auf, tauschte ihn jedoch sofort wieder aus, da er eine große Fasanenfeder hatte. Sie wollte auf gar keinen Fall Aufmerksamkeit erregen. Stattdessen entschied sie sich für einen aparten Hut aus schwarzem Samt. Dann war sie bereit. Sie eilte in den Eingangsbereich hinunter, bat den Pförtner, ihr einen Wagen zu rufen und streifte sich die Handschuhe über.
Sie musste sich mit beiden Händen festhalten, da sie den Kutscher gebeten hatte, sich zu beeilen, was er augenscheinlich sehr ernst nahm. Offenbar
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