Ein unwiderstehliches Angebot: Roman (German Edition)
heranwuchs, und sie doch nie als solche wahrgenommen. Für ihn war sie einfach Viv, sein Kumpel.
Lucien hatte da mehr Durchblick bewiesen.
»Wie auch immer«, fuhr er fort, als sie schwieg. »Ich werde dein Freund bleiben und dich nie im Stich lassen. Und natürlich werde ich alle Hebel in Bewegung setzen, um Lucien für dich zu finden. Nachdem er seit drei Tagen verschwunden ist, müssen wir wohl davon ausgehen, dass etwas passiert ist, und es wird höchste Zeit, ihn richtig zu suchen.«
»Aber wo?«
»Ich werde zunächst einmal nach Cheynes Hall zurückfahren.« Er rieb sich das Kinn. »Nicht weil ich ihn zu Hause vermute, sondern um von dort aus die Suche zu organisieren. Außerdem muss mein Vater von seinem Verschwinden erfahren.«
»Das ergibt einen Sinn.« Vivian straffte die Schultern. »Mein Vater wird bestimmt ebenfalls gerne helfen. Und ich selbst möchte Lilys Mann einschalten. Damien Northfield dürfte für so etwas der Richtige sein, denn er hat im Krieg gegen Napoleon für Wellington hinter den feindlichen Linien operiert. Als Spion, wenn du so willst. Er könnte ein paar diskrete Auskünfte einholen. Bisher habe ich noch gezögert, mich an ihn zu wenden, aber nach unserem Gespräch bin ich überzeugt, dass ich das unbedingt tun sollte.« Leise fügte sie hinzu: »Ich danke dir, Charles.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe dir mehr zu danken, als du dir vorstellen kannst.«
Der Hauch eines angestrengten Lächelns umspielte ihren Mund. »Dann war Schottland also eine gute Idee?«
»Überaus gut.« Er erwiderte das schwache Lächeln.
»Das habe ich mir gedacht.«
»Du hattest schon immer die besten Ideen.«
»Wie damals, als ich vorschlug, den prämierten Galopper deines Bruders auszuleihen und mit ihm zur Geisterstunde ins Dorf zu reiten?«
Es tat gut, sie lachen zu sehen, selbst wenn es ihre Anspannung nur wenig zu lockern vermochte. Trocken erklärte er: »Ich glaube, als Ausleihen kann man das wohl nicht bezeichnen … Das war schon eher Diebstahl. Lucien hätte mich damals am liebsten erwürgt. Wir hatten ja keine Ahnung, wie kostbar das Pferd war.«
»Und er war so unglaublich wütend.« Bei der Erinnerung an den Vorfall musste sie unwillkürlich lächeln. »Ich glaube, nach all den Jahren sollte ich endlich zugeben, dass der Vorschlag von mir stammte.«
»Sobald er deinen Reizen erlegen ist, wird er dir bestimmt gerne verzeihen.«
Eine leichte Röte überzog ihre Wangen bei dieser Anspielung. »Wir müssen ihn finden«, sagte sie mit zitternder Stimme, und Charles dachte traurig, dass er sie noch nie so verletzlich und so verängstigt erlebt hatte.
Er wollte sie glücklich sehen und seinen Bruder auch.
»Das werden wir«, versprach er ihr.
Halb verhungert und gefesselt in den Bauch eines Schiffes geworfen zu werden war schon unerträglich, doch mit Abstand das Schlimmste war der Durst. Luciens Handgelenke waren blutig gescheuert, weil er immer wieder erfolglos versuchte, sich aus den Fesseln zu befreien.
Ich werde hier unten sterben.
Der Gedanke traf ihn wie ein Dolch mitten ins Herz.
Denn es war nicht von der Hand zu weisen, dass man ihn elendig verrecken ließ. Nur zweimal war jemand gekommen und hatte ihm Wasser und Essen gebracht … Fragen wurden nicht beantwortet. Sobald er alles aufgegessen hatte, band der untersetzte Matrose, sein Kerkermeister, ihm wieder die Hände zusammen und verschwand. Um sich zu wehren, dazu war Lucien bereits zu geschwächt.
Wenigstens war er am Leben.
Noch zumindest.
Er wusste nicht, was sie mit ihm vorhatten, und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Wenn er schlief, dann nur oberflächlich, wälzte sich unruhig hin und her und träumte viel. Zum Glück auch Angenehmes, von Vivian und ihrer zarten Haut unter seinen Fingerspitzen und ihrem Mund, der sich weich auf seinen drückte. Von ihrem Stöhnen, als sie unter ihm das erste Mal kam.
Er musste überleben. Ihretwegen. Und natürlich wegen der Familie, die ihn angesichts des schlechten Gesundheitszustands des Vaters dringender brauchte als je zuvor. Er hätte Charles schonungslos sagen sollen, dass der Vater bald sterben würde, aber er hatte ihn nicht erschrecken wollen. Typisch großer Bruder, dachte er sarkastisch. Warum zum Teufel war er nicht einfach brutal ehrlich gewesen?
Charles hätte es schon ausgehalten trotz Heirat und jungen Glücks. Und noch etwas belastete Lucien: Hatte er möglicherweise durch sein Zögern die Versöhnung zwischen seinem Vater und Charles verhindert?
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