Ein Vampir fuer alle Sinne
hätte ich da draußen im Garten schon vor Stunden machen können«, ließ sie ihn wissen. »Der einzige Grund, wieso ich überhaupt noch hier bin, ist der, dass ich es so wollte.«
»Jesus«, sagte er schon wieder, dann betrachtete er Jeanne Louise skeptisch und atmete erst mal tief durch. Schließlich fragte er: »Und wieso sind Sie noch hier?«
Jeanne Louise zögerte, da sie nicht so genau wusste, wie sie darauf am besten antworten sollte. Die Wahrheit würde ihr jetzt nicht weiterhelfen, so viel stand fest. Er war noch nicht bereit, irgendetwas darüber zu erfahren, dass er womöglich ihr Lebensgefährte war. Erst einmal musste sie in dem Punkt selbst Gewissheit haben, und dann galt es herauszufinden, ob er überhaupt dazu bereit war, sein Leben an ihrer Seite zu verbringen, und ob er in ihr tatsächlich mehr sah als lediglich ein Mittel zum Zweck, um seine Tochter zu retten.
Da sie so wie jeder Unsterbliche nur einen einzigen Menschen wandeln durfte, konnte sie nicht überstürzt handeln. Zwar ging ihr Livys Schicksal zu Herzen, und sie fühlte auch mit Paul, dennoch konnte sie nicht einfach jeden todkranken Menschen retten. Sie würde nicht aus bloßem Mitgefühl diese eine Chance opfern, die sie hatte.
Da ihr bewusst war, dass er auf eine Antwort wartete, zuckte sie mit den Schultern und erwiderte ausweichend: »Betrachten Sie es als einen Test.«
»Einen Test?«, wiederholte er irritiert.
Sie nickte.
»Was denn für ein Test?«, fragte er skeptisch,
»Sie haben Ihre Geheimnisse, ich habe meine«, antwortete sie. »Keiner von uns ist momentan bereit, diese Geheimnisse zu offenbaren. Bis wir so weit sind, bin ich bereit Ihnen dabei zu helfen, Livys Schmerzen zu lindern, damit sie essen und schlafen kann und so wieder zu Kräften kommt. Ich nehme an, dass Sie dagegen nichts einzuwenden haben.«
»Nein, natürlich nicht«, bestätigte er prompt.
»Bestens. Könnten Sie dann die Fußfessel abnehmen? Allmählich beginnt die nämlich zu scheuern.«
»Oh.« Er sah sich um, dann schüttelte er den Kopf und griff in die Hosentasche. Schließlich holte er den Schlüssel hervor und kniete sich hin. Jeanne Louise zog die Hosenbeine ein Stück weit nach oben, dann öffnete er die beiden Schlösser und zog die Ketten weg.
»Danke«, murmelte sie und ließ die Hosenbeine wieder los.
»Ist mir ein Vergnügen«, gab er ironisch zurück und legte die Ketten auf den Küchentisch. »Möchten Sie jetzt etwas Blut trinken?«, wollte er wissen.
»Ja, gern.« Unwillkürlich verzog Jeanne Louise den Mund, weil der Umgangston zwischen ihnen so förmlich und steif war. Lieber Himmel, warum musste bloß alles so schwierig sein?
Paul ging zum Kühlschrank und nahm ein Einmachglas mit einer dunkelroten Flüssigkeit heraus. Jeanne Louise zog die Augenbrauen hoch, als er den Deckel abschraubte und ihr das Glas hinhielt.
»Was ist denn …?«
»Das ist mein Blut«, erklärte er. »Ich habe sterile Einmachgläser benutzt. Da ich keinen Zugriff auf eine Blutbank habe, musste ich mir in den letzten zwei Monaten in kurzen Abständen mein eigenes Blut abnehmen, damit ich genug für Sie zusammenkriege.« Nach einem skeptischen Blick zum Kühlschrank fügte er hinzu: »Ich hoffe, mein Vorrat reicht aus. Ich war mir nicht sicher, wie viel Sie benötigen, denn das hat uns niemand verraten, weil es nicht zu den Dingen gehört, die wir für unsere Arbeit wissen müssen.«
»Ich bin mir sicher, dass es genug ist«, sagte sie und nahm ihm das Glas aus der Hand. Sie war es nicht gewöhnt, Blut auf diese Weise zu trinken, weil sie normalerweise ihre Fangzähne in einen Blutbeutel bohrte und die Flüssigkeit auf diesem Weg zu sich nahm. Nicht, dass diese Methode ihr unangenehm gewesen wäre, doch es war ihr ein wenig peinlich, vor Paul zu stehen und dessen Blut zu trinken.
Sie ging zum Fenster und sah nach draußen, damit sie ihm beim Trinken den Rücken zudrehen konnte. Dann kippte sie den Inhalt in aller Eile hinunter, während er nur ein paar Schritte hinter ihr stand und ihr vermutlich zusah.
»Mehr?«, fragte er.
Jeanne Louise schüttelte den Kopf und ging zur Spüle, um das Einmachglas auszuspülen, als könnte sie damit auch die Erinnerung daran wegwischen, dass sie den Inhalt getrunken hatte. Der Anblick einer Frau, die ein Glas Blut zu sich nahm, war sicher nicht sehr attraktiv, überlegte sie, stellte das Einmachglas zur Seite und drehte sich wieder zu Paul um.
»Okay«, sagte der und ging in Richtung Tür. »Dann mal auf nach
Weitere Kostenlose Bücher